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34 Ergebnisse gefunden für „“

  • Klänge aus Jerusalem

    Unten donnert die neue Autobahn durch ein einst stilles Tal nach Jerusalem. Oben liegt hell der Campus der Hebräischen Universität, die Gebäude von Musikhochschule und Akademie für Musik und Tanz. Gegenüber, abwärts in den Hang gebaut, existiert ebenfalls ein Refugium für Kunst: das Wohnhaus der Familie Livay. Sich auszusagen in Musik und Bild, in gehauenem Stein und geschriebenem Wort ist hier, innen wie außen, Alltag. Yvonne Livay, Sängerin, Malerin, Dichterin, sucht Inspiration im Unterwegssein: Auf den Straßen und Plätzen der Stadt, am Ufer der Meere, in den Weiten der Wüste. Indem sie hinausgeht, geht sie in sich hinein. Schon im Park nebenan, an den Hängen des Tals findet sie, was ihr zu existentieller Frage, manchmal zu gültiger Antwort wird. Diese übersetzt sie in Farben und Formen, die wie Musik wirken - präzise und unbestimmt zugleich, in aller Skizzenhaftigkeit vor Emotion sprühend – und uns berührend wie Musik . Musik, die ihr erklingt, bringt sie hingegen ins Wort. Yvonne Livay ist eine Lebenssammlerin. Sie benutzt Material und Sprache, die sie unterwegs aufliest. Das Zufällige und Veränderbare bearbeitet sie mit Fragen nach dem Eigentlichen und scheut dabei nicht das Verharren in Zwischenschichten. So entsteht aus Allem ein gut erkennbarer, nur ihr gehörender Ausdruck, ein bannendes, fragendes Schwebenlassen. Dem muß man sich aussetzen: Was auch immer sie aufnimmt, erhält bei Livay eine unerhört dichte Diktion. Gewiß, persönliche Erinnerung und Last der Geschichte breiten im Leben der Künstlerin unaufhörlich Schleier aus. Verwoben mit Alltagsleben erstrecken sich Traum und Albtraum in diesem Haus über dem Tal in alle Gegenwart: überall Masken, verhangene Totenmasken, Gesichter der lang Verlorenen und Vermißten, ein tägliches, inniges Requiem, das Yvonne Livay den Ermordeten darbringt. Und im Atelier liegt Schwere über dem mühsamen Arbeiten mit sperrigen Fundstücken, rostigem Draht, den Yvonne Livay im Kampf, dem Entsetzen Grenzen zu setzen, zu Kronen, Lebenskronen, Dornenkronen biegt und windet. An diesem Ort wird um Leben gerungen. Und Leben aus Schatten herausgehauen, in dichteste Form gebracht. Dabei durchzüngelt heftige Sehnsucht nach Liebe und Leichtigkeit die Texte und Bilder. In knappesten Strukturen, kargen Chiffren legt Yvonne Livay Gefühle bloß. Folgt man der Spur, unternimmt man womöglich eine dramatische Reise ins eigene Ich. Yvonne Livay wurde 1942 in Zürich als Tochter jüdischer Eltern geboren. Ihre polnisch-jüdische Mutter, gerettet, sah im Höllenbrand deutscher Vernichtung machtlos Mutter und Familie, fast ihr ganzes Volk verlorengehen. - Yvonne Livay hat als Erwachsene in Jerusalem Zuflucht und Zuhause gefunden. Viele Sprachen sprechend, dichtet sie dennoch fast ausschließlich auf deutsch. Viele Jahre war sie Mitglied der deutschsprachigen Jerusalemer Dichtergruppe LYRIS. (Vorwort zu „Herbstbrand“, 2011/ z.Z. vergriffen/ Voranfragen möglich)

  • Femo findet Freunde!

    Werden auch Sie Femos Freund! Das erste Kinderbuch im rainStein Verlag - "Drache Femo sucht einen Freund", geschrieben und illustriert von Andrea Betcke - fasziniert Kinder unterschiedlichen Alters. Und die Erwachsenen, die daraus vorlesen dürfen!

  • Schweigen

    In der vergangenen Woche wurden wir hier im Tagebuch daran erinnert, wie sehr Überlebende und Nachkommen von Opfern des Nationalsozialismus bis heute leiden. Womit sie kämpfen. Wie schwer es ist, über radikalen Verlust, das Gemordetsein der Liebsten, ins Nichtsein Getretensein des eigenen Volkes zu sprechen. Wie sehr die Worte fehlen. Mögen Gedanken, Emotionen im Innern brennen- sie finden die Sprache nicht. Vielleicht weil niemand da ist, der bereit oder fähig ist, zu hören? Vielleicht, weil die, die bereit und fähig wären, die Falschen sind: Die eigenen Kinder, die, erführen sie von dem, was war, fortan unheilbare Wunden in sich tragen würden. Von solcherart Wunden sprechen viele rainStein-Bücher. Von jenem Ringen sind Lyrik, Berichte und Prosa derer erfüllt, denen rainStein ein Anker und Fenster zur Welt geworden ist. Es gibt aber auch das andere Schweigen: es liegt auf jenen, die die Täter waren. Auch hier die große Wand, die daran hindert, zu erzählen: Wie denn? Wem? Wer bin ich dann, wenn die Worte einmal gesprochen sind? Wer werde ich noch sein können? Umso bitterer und härter die Fragen und Leiden der Kinder. Es sei denn, sie wischen das Undenkbare, erfahren sie vom Dunklen, fort. Werfen es hinter sich und ziehen für ihr Dasein die Stiefel abwehrender Blindheit an. Auf dieser Seite fällt das Fortwischen leichter. Warum sollte einer mit Schuld und Scham leben? Es gibt auch das Schweigen der Zeugen. Sie sahen, wußten. Sahen aber nicht, was sie tun konnten. Oder wer ihrem Zeugnis Glauben schenken würde. Es gibt sogar das Schweigen der Retter. Ihre Tat wollen sie nicht ausstellen, es gehört sich nicht, das Leiden der Anderen deckt (fast) alles zu. Was übrig bleibt, vernichtet der dunkle Neid derer, die nicht gerettet haben. Von all dem spricht der erste rainStein-Roman. Er erschien in Zeiten der Pandemie und konnte nicht in die Welt hinein gelesen werden. Bei seinem Erscheinen erlebte er eine neue Art Schweigen. Nun aber kann er gehört werden: "Hinter dem Schweigen" ist von eigenem Schmerz, eigener Sprachlosigkeit und inniger, strahlender Lebensbejahung erfüllt. Sprechen Sie uns an! Hanna Ringena wird Ihrem Ruf zu einer Lesung folgen.

  • Vermächtnis

    Verena von Hammerstein wäre am 25.02.2023 hundert und ein Jahr alt geworden. Die Züricherin fühlte sich von früher Kindheit an, zeitlebens, tief mit ihren jüdischen Freundinnen verbunden. Freundinnen, die die Shoa überlebten, die in der Resistance ihr Leben aufs Spiel setzten. Sara Nachama schrieb in ihrem Geleitwort zum Buch "Verena von Hammerstein und ihre jüdischen Freundinnen" u.a.: „Letztlich aber zählt in unserem Leben nur eines: die Tat. Was wir tun und nicht was wir wollen, ist gültig. In dieser Hinsicht wird es unerheblich, welcher Herkunft und Religion oder Überzeugung wir sind: wenn wir das Richtige tun. Es hilft einem die beste Religion (oder Nichtreligion) nicht, wenn man sich nicht handelnd der Gewalt und dem Hass widersetzt. In seinen heutigen modernen Formen heißt der Judenhass aber oft Israelhass. Was der Hass auf Juden angerichtet hat und bis heute anrichten kann, das wird im Buch beschrieben. Was man dagegen tun muss, das haben uns Renée, Verena und andere vorgelebt.“

  • Entdeckungen: Livay und Oppenheimer

    Beitrag zum Buch „Die Frau mit der Lotosblume“ von Yvonne Livay Der Autorin Yvonne Livay begegnete ich bei der Preisverleihung zum 16. Wettbewerb der Stiftung Kreatives Alter in Zürich im Oktober 2022. Wir gehörten zu den 20 Empfängern der Anerkennungsurkunden, die als 2. Preis ausgelobt waren. Was ich zu Inhalt und Hintergrund ihres dort vorgelegten Buches erfuhr, erinnerte mich an die Erzählungen Richard Oppenheimers (Venice, Florida) zur Lebensgeschichte seiner Eltern Max und Erika bei seinen Besuchen in Bad Wildungen. Wie Yvonne Livay hatte Richard nach dem Tode seines Vaters (20 Jahre nach dem Begräbnis der Mutter) einen im Nachlass verborgenen Schuhkarton gefunden. Dieser enthielt Aufzeichnungen seiner Mutter aus den Jahren 1945/1946 über ihre Erlebnisse als verfolgte Jüdin in den Jahren 1941 bis 1945. Die Berichte bezogen sich auf Bad Wildungen, Kassel, Riga, die Konzentrationslager Kaiserwald in Lettland, drei weitere namentlich nicht in Erinnerung gebliebene Lager in der Nähe von Thorn und das Lager Stutthof bei Danzig. Mit ihrer Mutter Lina Mannheimer hatte Erika als einzige der Familie diese Zeit überlebt. Beide waren zufällig auf dem Todesmarsch durch Polen auf dem Weg gen Westen wieder zusammengetroffen, gemeinsam kehrten sie nach Bad Wildungen zurück, wanderten von dort 1946 in die USA aus. Dort heiratete Erika 1948 Max Oppenheimer, der bereits 1940 in die USA emigriert war. Außer den handschriftlichen Aufzeichnungen seiner Mutter Erika fanden sich im Schuhkarton Teile des Briefwechsels zwischen Max Oppenheimer mit einem Jugendfreund in Augsburg aus den Jahren 1947/1948, in dem die Verwendung des in Augsburg verbliebenen Vermögens der Oppenheimers nebst dem Verhalten diverser Augsburger Bürger Thema war. Beiden, Yvonne Livay und Richard Oppenheimer, ist ferner gemein, jeweils erst in fortgeschrittenem Alter von der Existenz einer in die Familien hineingeborenen Cousine erfahren zu haben, Yvonne Livay 2012 aus einem Brief ihrer Tante an ihre Mutter, Richard Oppenheimer im Zuge seiner Forschung über seine Familie beim Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main 2016. Die Geburt des 1938 in Neu-Isenburg geborenen Kindes Lane, Tochter von Marga Mannheimer, Erikas älterer Schwester, war der Familie Mannheimer verschwiegen worden. Das Kind wurde, wie seine Mutter, unmittelbar nach der Ankunft des aus Berlin ankommenden Transportzuges im Bikernickiwald bei Riga am 22. Oktober 1942 ermordet. Ihre Vergangenheit verschwieg Erika Oppenheimer gegenüber ihrem Sohn Richard bis zuletzt, desgleichen ihre dreimaligen Aufenthalte in Deutschland zwischen 1977 und 1984, zu deren Anlass sie als Zeugin in Gerichtsverfahren gegen Täter der SS geladen war. Sie unterließ es auch, Informationen aus ihrer alten Heimat zu vermitteln oder in seiner Gegenwart mit ihrem Ehemann darüber zu sprechen. Sie verweigerte ihm ein in Deutschland hergestelltes Fahrrad wie auch während der Schulzeit den Gebrauch einer mechanischen Schreibmaschine aus deutscher Produktion. Die deutsche Sprache hörte er ausschließlich von Lina, der mit im Haushalt lebenden Großmutter. Max und Moritz und Struwwelpeter waren ihre Vorlesebücher. Richard Oppenheimer reiste indessen nach 2011 mehr als zehnmal in die alte Heimat seiner Eltern, folgte den Spuren von Mutter und Großeltern nach Polen, Litauen, Lettland und der Gedenkstätte Sachsenhausen. Darüber verfasste er die Erinnerungsbücher „Walking in the footsteps of my mother“ und „Searching for the footsteps of my father“. Schließlich beantragte er den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Den deutschen Pass besitzt er seit Mai 2022. Bad Wildungen wurde seine zweite Heimat, in der er gern wieder wohnen möchte. Anhang: Richard Oppenheimer, geboren 1950 in New York Erika Oppenheimer geb. Mannheimer, geboren 1923 in Bad Wildungen, gestorben 1988 in New York Max Oppenheimer, geboren 1915 in Augsburg, gestorben 2006 in New York Lina Mannheimer, geborene Lilienstein, gestorben 1981 in New York * Beitragsbild:"THE GREY BOX", von Yvonne Livay, Jerusalem, 2012

  • Manfred Winkler gewürdigt

    Manfred Winkler war israelischer Nationalpreisträger für Lyrik (1999) und eines der Gründungsmitglieder des LYRIS-Kreises. Für rainStein schrieb er Vorworte und stellte seine bildnerischen Werke für rainStein-Covergestaltungen zur Verfügung. Dörthe Kähler begegnete dem Dichter in Begleitung unserer Autorin Yvonne Livay in seinem Haus nahe bei Jerusalem und hatte Gelegenheit zu ausführlichem Gespräch. Manfred Winkler wäre im Oktober 2022 hundert Jahre alt geworden. Er starb im Juli 2014 in Jerusalem. Im November 2022 traf sich in Jerusalem eine hochkarätige Runde von Freunden, Kennern und Wissenschaftlern unter der Ägide des dortigen Goethe-Instituts, um Manfred Winkler zu würdigen. Insbesondere wurde sein immenser Beitrag zum (osteuropäisch) Deutschjüdischen und Hebräischen sowie den Beziehungen beider Sprachwelten untereinander hervorgehoben. Gelesen wurde aus dem Winkler-Band Noch hör ich deine Schritte, welcher von Manfred Winkler selbst übersetzte Gedichte in beiden Sprachen versammelt. Hier der Mitschnitt der Gedenkveranstaltung (mit Dank an Prof. em. Dr. Schrader)

  • Wie gedenken?

    Heute werden sie täglich und allerorten verwendet: Begriffe, die sich auf jene düstere Zeit beziehen. Mit jedem Mal, da diese Worte auf Heutiges und Heutige gemünzt werden, zieht sich eine Decke über das, was war. Das, was wirklich war und was ab einem Tag Ende Januar 1942 in Wannsee unabwendbar blieb: es wird (trotz aller Gedenkreden) immer neu vehement verwischt und begraben. Denn wer heute zu jemandem, der nicht der eigenen Meinung ist, "Nazi" sagt, löscht das Gedenken aus. Das Gedenken an lebendige Kinder, Mütter, Väter, die aus ihren Betten, aus den Armen ihrer Lieben gerissen wurden, eingereiht und in den Tod gestoßen. Das Böse, das geschah, vergeht nicht. Zu trauern um die Menschen, die von unseren Landsleuten Gesicht zu Gesicht ermordet wurden, wäre unser Wall gegen neues Böses. rainStein berichtet von denen, deren Leben im Mordfeuer unterging: Worte, Fotos, Briefe. Sie erzählen einen Schmerz, der nie vergeht. Lesen Sie unsere Lyris-Bände. Lesen Sie "Marianne. Eine wahre Geschichte". Lesen Sie "Das Kind im Park". Lesen Sie "Die Frau mit der Lotosblume". Lesen Sie "Verena von Hammertsein und ihre jüdischen Freundinnen". Lesen Sie "Hinter dem Schweigen". Lesen Sie u.a. von Hillel Krohn, einem der ermordeten Cousins von Rhea Schönborn. Nur Rhea wurde gerettet, hat als Kleinkind mit Hilfe fremder Menschen die Jahre der tödlichen Verfolgung in Berlin überlebt und ist noch heute unter uns. (Das Kind im Park).

  • Genf: Yvonne Livay liest

    Die Jerusalemer Autorin Yvonne Livay ("Rostige Zeiten", "Herbstbrand", "Die Frau mit der Lostosblume") wird der Einladung der Société Genevoise d'Études Allemandes folgen und daselbst in Genf am 23. März 2023 ihre Dichtung sowie ihre dokumentarische Erzählung "Die Frau mit der Lotosblume" (alle im rainStein Verlag erschienen) vorstellen. Prof. Dr. Schrader, Ehrenvorsitzender der Société genevoise d'études allemandes: "Gleich einigen anderen der zugleich deutsch und hebräisch Schreibenden im zuletzt von ihr geleiteten Jerusalemer LYRIS-Autorenkreis ist Yvonne Livay eine multiple Künstlerin. Da die Mutter den Nazis rechtzeitig aus dem polnischen Dombrowa Gornica entkommen konnte, wurde sie 1942 in Zürich geboren, ist dort auch aufgewachsen. Studiert hat sie Gesang und Gesangspädagogik, zunächst in Bern und Basel, dann in Jerusalem, wo sie mit ihrem Mann, dem Psychologen und Bildhauer Ram Livay, und der Familie seit 1971 (mit Auslandsunterbrechungen) lebt. Dort hat sie auch Zeichnen, Malen und Bildhauerei studiert. International bekannt wurde sie v.a. als bildende Künstlerin (Ausstellungen ihrer Bilder, Grafiken und Objekte in Israel, Tschechien und Deutschland, häufiger, zuletzt im Sommer 2022, in Berlin). Uns stellt sie ihr eindrucksvolles poetisches Werk vor, die „Worttürme“ ihrer (bebilderten) Lyrikzyklen „Rostige Zeiten“ (2010) und „Herbstbrand“ (2011), sowie die erschütternde (kommentierte) Dokumentation der ererbten Familienbriefe aus dem Ghetto und Todeslager, „Die Frau mit der Lotosblume“ (2020), alle im Berliner rainStein-Verlag." (www.sgea.ch)

  • Willkommen!

    Eines neues Jahr beginnt - und wir öffnen wieder unsere Tore! Monate hat es gedauert, technische Hürden waren zu nehmen, - nun aber haben wir unser neues kleines Zuhause und laden Sie ein, sich umzuschauen. Kommt Ihnen die Seite vertraut vor? - Wir haben versucht, uns treu zu bleiben. Und wie gewohnt erreichen Sie uns über das Kontaktformular oder weiter direkt über info@rainstein.de, ob bei Nachfragen zu Büchern oder zu anderen Angelegenheiten. Haben Sie übrigens schon den Drachen Femo entdeckt? Er logiert hier seit dem vergangnen Jahr - und ist auf der Suche nach Freunden! :)

  • „Ziegel und Aschentürme auf Säulen“

    Prof. em. Dr. Hans-Jürgen Schrader, Université de Genève Zur Lyrik der Jerusalemer Maler-Dichterin Yvonne Livay Das Zitat im Titel dieses Beitrags stammt aus dem ersten schmalen Band mit „Lyrik und Graphik“ von Yvonne Livay, Rostige Zeiten. Es eröffnet hier im Zyklus Berliner Reigen das Gedicht, das vielleicht nicht zufällig auf die symbolträchtige Seite 100 gesetzt wurde: Asche – Synagoge Oranienburger Straße Ziegel und Aschentürme auf Säulen wissen mehr Wissen in Asche und Übersee – zerstreut in alle Winde Niemand unter uns hat eine Heimat – nie wird es ruhig in der Asche Kleine Flämmchen motten immer und trotzdem in und um uns weiter Als „Worttürme“ bezeichnet die Jerusalemer Lyrikerin die hier ersichtliche eigentümlich hochgebaute Form ihrer lakonisch und unter Verzicht auf alle Satzzeichen aufgeschichteten Gedichte, die nur wenige, in diesem Fall höchstens ein bis drei Wörter in einen Vers bringen, beim Lesen mit jedem Zeilensprung ein kurzes, der Reflexion Raum gebendes Innehalten nahelegen. Als „faszinierend geschichtete Wortbilder“ benennt das der Klappentext des hinteren Umschlags diese poetischen Säulen, während auf dem vorderen als Probe des bildkünstlerischen Schaffens der Autorin, Malerin, Zeichnerin und Bildhauerin Yvonne Livay eine ihrer häufigen Architekturszenerien[1] abgebildet ist, der eingerüstete, noch fensterlose Rohbau eines dreigeschossigen Mehrfamilienhauses, hier ein Ölgemälde mit dem Titel Red – wohl nach der wuschelkopfartig vor dem Bauwerk einkomponierten rostrot herbstbelaubten Baumkugel.[2] Die Große Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin Mitte, auf die der Titel des Gedichts verweist – oder vielmehr das, was von ihr nach Nazi-Verwüstung, Bombenzerstörung und DDR-Teilabriss übrig geblieben war und seit 1988 durch private Initiativen als Mahnmal wiederhergestellt, schließlich nach der Wende 1995 feierlich wiedereröffnet werden konnte, hatte die Künstlerin bei einem Arbeitsmonat in der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland im Jahr 2009 besucht, auf dem der Zyklus Berliner Reigen beruht – und der zugleich Grundlage wurde für die ihr (zusammen mit der von Wien her nach Jerusalem eingewanderten ebenfalls deutsch schreibenden Maler-Dichterin Eva Avi-Yonah) gewidmeten Ausstellung im brandenburgischen Schloss Gollwitz 2011, der später weitere Berliner Kunstausstellungen ihrer Bilder und Statuen folgten. In der im einstigen Gotteshaus eingerichteten Gedenkstätte fand sie Exponate der aus Trümmerschutt, Asche und Bauteilen geborgenen Überreste dieses einst 1866 in Anwesenheit Bismarcks geweihten größten Synagogenbauwerks Deutschlands präsentiert, Zeugen einer Katastrophengeschichte, deren Memoria neben den stummen Steinen nur die in überseeische Emigration zerstreuten und heimatlos gebliebenen[3] Überlebenden verbürgen konnten. Sie sind das „wir“ der vierten Versgruppe, Garanten dafür, dass Ziegel und Aschentürme Sprache gewinnen und Auskunft geben können für das, was – von Berlin aus verfügt und gesteuert – geschehen ist. Der Funke ihrer durch die Folgegenerationen weitergegebenen Trauerarbeit frisst sich gleich Motten im Werg fest und bewirkt, dass die Erinnerung nicht erlöschen kann. Die uns hier als Erbin dieses Zeugen-„wir“ Entgegentretende ist selbst eine vom Erinnerten lebensbestimmend Betroffene, wenngleich sie ihr Trauma in ihrer Lyrik nur selten so offen durchschaubar zu Wort bringt wie in diesem Gedicht. In einem Band penibler Erinnerungsarbeit, Die Frau mit der Lotosblume. Eine Dokumentation, 2020 im selben Verlag erschienen, hat sie die zunehmend verzweifelten, teilweise deutsch, überwiegend aber polnisch geschriebenen, mühsam entzifferten und ins Deutsche übertragenen Briefe ihrer in der Shoah untergegangenen mütterlichen Verwandtschaft aus dem oberschlesischen Dombrowa Gornica publiziert, die von den Drangsalierungen im Ghetto und den Abtransporten in die mörderischen Lager in Formeln berichten, die die Briefzensur umschiffen konnten und aus denen sie kommentierend erschließt, was die Andeutungen verbergen mussten.[4] ... Als Yvonne Cholewa ist die Dichterin in Zürich am 5. Mai 1942 auf die Welt gekommen und aufgewachsen. Ihrer jugendlich wirkenden, soigniert-eleganten Erscheinung könnte man die achtzig Jahre, zu denen sie nun beglückwunscht werden kann, keinesfalls ansehen. Kaum auch hört man ihrem nuancenreich gepflegten Deutsch einen schweizerischen Tonfall an. Ihre Mutter Salunka Dancygier (1920–2008) war aus dem polnisch-oberschlesischen Industrieort Dombrowa Gornica mit seiner zu 85% jüdischen Bevölkerung 1938 zu einer Tante nach Basel gekommen, hatte dort Arbeit gefunden und war so nach der deutschen Besetzung und dem Anschluss Oberschlesiens ans Deutsche Reich der Ghettoisierung, späteren Deportation und Ermordung nahezu der gesamten Familie entkommen, die sich als grausiger Schatten über ihr Leben ebenso wie über das ihrer beiden Töchter legte, die im Wissen um die Ursache der fehlenden Verwandtschaft aufwuchsen. Yvonne, die ihre multiple künstlerische Produktion als den Versuch einer kathartischen Bannung dieser bitteren Mitgift zu begreifen gelernt hat,[5] hat nach der Schulzeit, einem Praktikum im amerikanischen Generalkonsulat in Zürich und einem Sekretariatsjahr an der Banc of America in San Francisco (1962/63) vierundzwanzigjährig 1965 den damals in Zürich studierenden israelischen Psychologen und Bildhauer Ram Livay geheiratet, hat mit ihm eine neue Familie (drei Söhne, sechs Enkel) gründen können. Nach seinem Studienabschluss in Fribourg zog das Paar nach Bern, wo sie als Gesangspädagogin und Stimmbildnerin ausgebildet wurde und die beiden ältesten Söhne geboren wurden, bis die Familie 1971 nach Israel zog und (seit Ende 1972) in Jerusalem sesshaft wurde – unterbrochen durch nochmals fünf Jahre seiner Anstellung im Paraplegikerzentrum in Basel (1977–1982), in denen das nahe Birsfelden Wohnsitz wurde. In Jerusalem wohnen Yvonne und Ram Livay in einem gastfreundlichen Haus mit üppig blühendem Garten dicht unter dem Campus Givat Ram der Hebräischen Universität und der Nationalbibliothek. Die untere Etage dient der polyglotten Künstlerin als Malatelier. Denn neben ihrer beruflichen Arbeit als Gesanglehrerin und Musiktherapeutin für behinderte Kinder (Jerusalemer Studium 1982–85) hat sie nach Zusatzausbildungen bei renommierten Mal- und Zeichenlehrern (Jan Rauchwerger, Joseph Hirsch) seit 1992 vor allem als Malerin, Grafikerin und Bildhauerin gewirkt, seit 2001 wurden ihr zahlreiche Ausstellungen v.a. in Israel, Deutschland und Tschechien (2010 im Ghetto-Museum Theresienstadt) gewidmet. Parallel entstanden ihre Gedichte, überwiegend auf Deutsch, ein kleiner Zyklus auch auf Hebräisch. Sie wurden zunächst in Anthologien publiziert, bis im Berliner rainStein-Verlag die beiden Lyrikbände mit Abbildungen ihrer Kunst erschienen, nach Rostige Zeiten (2010), der Bilder wegen im Quartformat, Herbstbrand (2011).[6] Eine neue Gedichte-Sammlung ist in Vorbereitung. Ein Sprachaustausch-Programm der Hebräischen Universität führte sie 1993 an die Lomonossow-Universität Moskau, häufige weitere Reisen u.a. nach Peking und Vietnam, durch die USA und nach Panama, nach Wien, in Deutschland v.a. wiederholt nach Berlin. Ihre Poesie wurde 2012 gefördert durch ein zweimonatiges Writer-in-Residence-Stipendium im westfälischen Künstlerdorf Schöppingen und 2016 durch den Literaturpreis der Baumstiftung, Berlin. Erst spät, 2000, hat sich Yvonne Livay dem „Lyris“-Kreis der deutsch schreibenden Lyriker in Israel angeschlossen. Dazu hatte sie der als Dichter wie als Bildhauer produktivste unter den Mitbegründern, Manfred Winkler (1922–2014) eingeladen, der dann auch ihren Gedichtband Rostige Zeiten bevorwortet hat.[7] Die Mitglieder dieses zumeist in mehreren Künsten produktiven Kreises, deren Ältere als Überlebende der Shoah ins Altneuland gekommen waren, trafen sich seit der Gründung 1982 und bis zur Auflösung Ende 2017 normalerweise einmal im Monat zu privaten, mit einer plauderfreudigen Kaffee- und Kuchen-Stunde eröffneten Zusammenkünften, um einander ihre neuesten poetischen Arbeiten vorzutragen und darüber in kritisch-fördernde Gespräche zu kommen. Nach dem Tod der Mitbegründerin und langjährigen Organisatorin dieses Dichterkreises, der ebenfalls hauptsächlich malerisch tätigen Eva Avi-Yonah (1921–2011), übernahm Yvonne Livay deren Rolle als Einladende und Mittelsperson des Kreises: um die Künstlerfreunde hat sie sich auch in Krankheit und Altersgebrechen bemüht, namentlich um die aus der Bukowina stammenden Manfred Winkler nebst Frau Herma (für dessen Nachlassüberführung nach München sie sich engagiert eingesetzt hat) sowie um die Celan-Freundin Ilana Shmueli (1924–2011), um die Berlinerin Magali Zibaso (1939–2012) und den Wiener Haim Schneider (1921–2016).[8] Für die vom Goethe-Institut Jerusalem herausgebrachte Broschüre Lyris-Kreis. Eine deutsche Sprachinsel in Jerusalem. Gedichte[9] hat sie die Porträts der Teilnehmenden gezeichnet: darunter auch das hier abgebildete Selbstbildnis, das – wohl als Symbol ihres Lebenstraumas – nur einen Ausschnitt der rechten Gesichtshälfte präsentiert. Bei den Kaffeenachmittagen und Leseabenden des Lyris-Kreises waren interessierte Gäste aus aller Welt, von der Gastgeberin warmherzig umsorgt und mit Speis und Trank ebenso wie intellektuell verwöhnt, stets willkommen.[10] ... Konkrete lokale Bezüge sind in Yvonne Livays Poesie weit seltener als bei den anderen Lyris-Autoren ‒ sieht man ab von jenem hier eingangs mit dem Synagogen-Gedicht aufgerufenen Berliner Reigen und seiner thematischen Wiederaufnahme im Zyklus Feindesland der Sammlung Herbstbrand,[11] auf die im Kontext jener Gedichte zurückzukommen sein wird, die die Schatten der Geschichte aufrufen. Die Örtlichkeiten gewinnen eher symbolische Valenz als dass sie Lokalitäten plastisch evozierten. Im Gedicht L’amant qui venait de la Chine du Nord im Zyklus Rostige Zeiten[12] beruhen die Eindrücke „Grau | das Mekong-Delta“, von erstickender „Hitze“ und „Monsunschwere“ gar nicht eigener Wahrnehmung (eine Vietnam-Reise wurde erst weit später unternommen), vielmehr wird intertextuell auf Marguerite Dumas’ in Indochina spielenden Roman L’amant verwiesen, und der Zyklus Mond über Soho (RZ 49‒82) geht wohl von eigenen New Yorker Manhattan-Impressionen aus (Strassenschluchten, RZ 53, „Turmhoch | wächst Grau | aus Graustein“, RZ 59), haftet jedoch im impressionistischen Stimmungs- und Gedankenprotokoll keinesfalls an dieser Lokalisierung und überschreitet sie auch rasch (etwa im Verspüren des Wüstenwinds Chamsin). Die Sphäre des eigenen Herkommens, Kindheit, Jugend und spätere Jahre der Wiedereinkehr in die Schweiz, etwa die in autobiographischen Prosaäußerungen im Erinnerungsbuch der Autorin reflektierten Vorschulerfahrungen im Sanatorium in Davos, die Ferienerinnerungen an häufige Familienurlaube während der Schulzeit im Tessin, die Sommer am Ägerisee und Winter in Engelberg oder auch die Schweizer Wohnorte in Zürich, Fribourg, Bern, Basel und Birsfelden haben in den Gedichten ebenso wenig erkennbare Spuren hinterlassen wie die späteren Studien- oder Künstlerreisen.[13] Selbst die Lebensumwelt von nunmehr bereits 43 Jahren in Israel, die Straßen, Türme, Mauern, Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen Jerusalems werden fast nie thematisiert oder szenisch evoziert, wie doch bei Gedichten aus dem so farben-, gerüche- und tönereichen, geschichtsträchtigen und gegenwartsverworrenen Heiligen Land zu erwarten wäre. Von den beiden in eine Anthologie Jerusalem in Gedichten aufgenommenen Versgruppen[14] geht Meine Klagemauer vom Gegenständlichen des Lokalaugenscheins („Ritzen“ für „zusammengefaltete Briefe“ im ‚Briefkasten Gottes‘ und „tausendjährige Kapernbüsche“) sogleich im Rückbezug aufs eigene Selbst zur metaphorischen Bedeutung über („ich schreie | mir | die Seele | aus | dem Leibe“). Ein anderes Gedicht bannt den Zauber des lokalen Augenscheins (wie so häufig in themenverwandten Gedichten Manfred Winklers) in ein Stimmungsbild, die Tochter Zion wird zur tanzenden Salome: Jerusalem Nocturno, „der Abend wandert wie ein Hirte | über die Weiden der Stadt | sein Stab malt gelbe Ecken auf die Dächer | und seine Wolken | folgen | ihm | ins Dunkel || die sonst so Bunte | steht verkleidet | im Grau | und tanzt | zum Tambourin des weißen Mondes“.[15] Ebenso geht das Gedicht Horizonte. Ein Bokek am Toten Meer im Titel von einem konkreten Lokalbezug in Israel aus, zum Tourismus-Zentrum En [Ein] Bokek an dem nur neunzig Autominuten von Jerusalem entfernten, aber fast 1200 Meter tiefer gelegenen ‚Salzmeer‘ (Jam haMelach). Es überführt dessen mit impressionistischer Stimmungskunst eingefangene beklemmende Wahrnehmung mit dem ölig wirkenden, zu kristallinen Säulen erstarrenden Salzkonzentrat, der dunstigen Dämpfung des Sonnenlichts in der Luftschwere zwischen den urtümlichen Rotsandsteinklippen 400 Meter unter dem Meeresspiegel, in der kein Laut der vor dem See zurückzuweichen scheinenden Vögel zu vernehmen ist, aber sogleich in eine psychische Topographie: „Nichts | hinter Salzsäulen || Auf nackter Haut | trocknen | Zeitschichten || gläsern ‒ salzig | flach || Stumm | stehen Vögel | im Zwielicht | still || im | Rot der Bergschichten || Ich wachse | wund | in neue | Salzwüsten || in Runen | im | Sandatem“ (RZ, S. 110). Aus der Tiefe der urtümlichen, von Sandstürmen zu grotesken Zeichen gefrästen Landschaft tritt das Sprecher-Ich als eine neue Frau Lot hervor. Die ist zur Salzsäule erstarrt, weil sie entsetzensvoll zurückgeblickt hat in die traumatisierenden Abgründe des grauenvoll Geschehenen: sie hat die Apokalypse von Sodom und Gomorrha geschaut, wovon sie nun in warnender Zeichenhaftigkeit Zeugnis ablegen muss. Sowohl das Impressionistische der Stimmungsnuance als auch die archetypische Zeichenhaftigkeit der Bilder und Botschaften, die sich eher ahnungsvoller Nachempfindung als rationaler Dekonstruktion erschließen, sind charakteristisch für Yvonne Livays verdichtende Lyrik überhaupt. Sie produzieren nicht nur den in so kurzatmig gebrochenen Versen stockenden Sprachfluss, sondern auch die Vielzahl an Neologismen, paradoxen Wortzusammenfügungen und häufigen Oxymora, die ambivalente Zeichenhaftigkeit der in Traumlogik verschlüsselten Aussagen. Es ist lohnend, sich dem im Lesen, Wiederlesen, dem Nachspüren von Klang und Aroma, auch der Mehrdeutigkeit der Wörter und oft paradoxen Wortzusammenfügungen gleichsam eintauchend auszusetzen, selbst um den Preis, dass die subjektive Sinnerfüllung oft bestreitbar bleiben mag. Wären die Gehalte in rational-nüchterner Prosa auszuschöpfen, bedürfte es nicht des poetischen Bedeutungsmehrwerts. Am Beispiel von Gedichten, in denen häufig wiederkehrende Bilder und Motive, auch surreale Redeweisen, Wortkombinationen und Wortspiele der Livay’schen Poesie konzentriert und kumuliert aufzeigbar sind, bemühe ich mich um einen notwendig abbreviativen Zugang: Das den Ein Bokek-Versen im Band Rostige Zeiten folgende, vermutlich aus gleichartiger Landschaftsimpression entstandene Gedicht trägt den im Ursprungssinn auf Erzählstücke verweisenden Titel Geschichten: Wolken umschichten || verdichten | Stunden zu Quadern || Auf blosser Haut | vernichten | Worte | stumm Erhofftes || erdichten Träume || turmhoch || Schichten | zerfallen | in gelbe Geschichten | schweigen (RZ, S. 111). ... Die zum Wortturm aufgeschichtete Form des Gedichts und das Stocken des Sprachflusses durch die in gestische Kurzverse gebrochenen, also nicht in übergängigem Enjambement zu sprechenden Sätze[16] habe ich als charakteristisch schon erwähnt. Der mittlere der drei Sätze von „Auf bloßer Haut“ bis „turmhoch“ ist nicht bloß in sechs Verszeilen zerspalten, sondern dabei sogar in drei Versblöcke, zwischen diesen ‚Strophen‘ ein längeres Innehalten erfordernd. Das Aufeinandergeschichtete dieser Wortschichten zeigt schon an, dass der Gedichttitel Geschichten nicht bloß Erzähltes bezeichnet: mit der urtümlichen Möglichkeit der germanischen Sprachen, eine mengenmäßig unbestimmte Mehrzahl durch das Präfix „Ge“- zu kennzeichnen wie „Gebirge“ für einen Berg-Komplex oder „Gewölk“ für eine Ansammlung von Wolken sind die „Geschichten“ des Titels zugleich die Mehrzahl der als landschaftsbestimmend gesehenen Gesteinsschichtungen und die Kennzeichnung der Bauform des Gedichts, verweisen aber auch auf anderes Geschichtete wie die aus Salz auf nackter Haut aufgetragenen „Zeitschichten“ und die „Bergschichten“ im vorangehenden Gedicht. Die gehäuften Binnenreime in der doch lakonisch-knappen Versgruppe entfachen im Wortspiel des Gleichklangs „Geschichten / umschichten / verdichten / vernichten / erdichten / Schichten / Geschichten“ geradezu ein Feuerwerk einander konfrontierter Bedeutungen. Die hier kondensierten und mit der traumähnlichen Wahrnehmung einer festkörpergleich stapelbaren Zeit verbundenen Motive des ungreifbar Übergängigen, Zerfließenden, insbesondere des Zerfalls, kehren in Yvonne Livays Gedichten zahlreich wieder ebenso wie deren Konjunktion sowohl mit Farbassoziationen (Verfallsprodukt sind hier ‚gelbe Geschichten‘ ‒ aus der Auflösung von Sandstein wie aus dem Zerfall erzählter Geschichten) als auch mit dem Motiv des Schweigens, Verstummens, Unaussprechlichen: die verstörenden Worte des aus der Verdrängung aufbrechenden Unsäglichen unterliegen der Gefahr, dieses ‒ wie auch die nur vom Schweigen zu erhoffende Schmerzberuhigung ‒ zu zerreden. Ersichtlich wird das beispielhaft in Ausschnitten aus dem zum erörterten gleichsam schwesterlichen Gedicht Schichten: „Schichten | überschichten || verdichten sich | hautnah […] Narben | gären || in sich selber | vergraben || versenkt und | aufgerissen […] Sandlicht | in den Wunden || in | Schmerzenstiefen“ (RZ, S. 43), die Kunde davon bleibt „wortlos ‒ wortgefangen“ (RZ, S. 42). Das alptraumhafte Gefangensein des Ich in labyrinthischen Wurzelschichtungen (oft auch zähen Spinnengeweben),[17] dem auch das Schreckerwachen angesichts der unübersteiglich aufgetürmten Barriere der rationalen Anforderungen des Tages nur scheinbare Befreiung zuträgt,[18] bringt in der Sammlung Herbstbrand das Gedicht Unendlich V zum Ausdruck, motivlich dann weitergeführt oder auch erwidert in Dissonanzen: Unendlich V || Tieftraumwurzeln | aus Quellen || Schwere | Dunkelworte || verklettet | zäh verhängt || Es schreit | ich | schreie mich | frei | durch Schichten | durch | alles Dichte | im Irrgarten | wirr | verwirrt | in die Helle || Dann | bäumen sich | Tage ‒ || und | Traumknoten | zerfallen (Hb, S. 23). Dissonanzen || Schwarz | ziehen sich Bretter | durch | Fensterrahmen || verweben | den Raum || Ich fliehe | vor | den Zweigen || Sie wachsen | in meine Träume || fesseln mich | an | die Nacht || Und der Wind | schweigt (Hb, S. 47). Yvonne Livay: Network I (Netzwerk), Radierung, 10 x 10 cm (ca. 2009). Abbildung in: Rostige Zeiten. Berlin: rainStein 2010, S. [119]. © Yvonne Livay Grünverschlossene Botschaft hatte H.C. Artmann eine Serie aus ähnlicher Traumlogik ins Wort gesetzter Szenerien genannt, die sein surrealistischer Maler-Freund Ernst Fuchs meisterlich ins Bild gebracht hat.[19] Bei Yvonne Livay aber sind die Traumbilder durchgängiger in Traumata verfangen. Ihr „Tieftraum“ (RZ, S. 22) „keimt“ als „Grautraum“ (Hb, S. 66f., vgl. S. 44) auf, wird zum „Fiebertraum“ (Hb, S. 51), nachtwandlerisch oder seiltänzerhaft tastsicher, doch absturzgefährdet: Les funambules || Schmaler Monat | auf | dem Seil | hoch | über Abgründen || Tage | in der Vogelschau || über Trugseen || Sie glänzen | im | Wandel der Gestirne || Eng | glitzert Tiefe ‒ | trügerisch | still || Ich schwanke | schmal | nach vorn (Hb, S. 46). Entsprechend trügerisch, dazu von kurzer Verfallzeit, sind die Bemühungen um verbale Botschaft, wie im Gedicht Gläsern I mit Bezug auf den Ehrendoktor der Universität Jerusalem, Jean-Paul Sartre (Les jeux sont faits / Das Spiel ist aus), gesagt wird: „Worte | traumverschlüsselt eng || unwahr || Das Spiel | ist | zu Ende || zerbricht || verhallt“ (RZ, S, 33), oder mit derselben Verweisung im Titelbezug aufs Roulette und Kartenspiel und auf das Unzuverlässige und Plump-Versehrende alles Sprechens, Alles oder nichts ‒ Rien ne va plus || Schwarz | legen sich | Worte | vor Lieder || taktlos || verbergen | samtigdunkel | verstellen sich | hinter Masken || Spielkarten | vor | und hinter Dir | und | der Grenze || Das Spiel | ist | aus (RZ, S. 67).[20] Farben, weiß, schwarz, grau, blau und besonders expressiv besetzt, gelb und rot, spielen, wenngleich nicht durchgängig mit gleichartig konnotierten Emotionen, eine bedeutsame Rolle in der Lyrik der Malerdichterin. Gelb sind oft Keile, die gewaltsam das Grau der Atmosphäre, aber auch „Wortknäuel“ aufreißen und zerfetzen wie in den Gedichten Gelb I‒III im Kleinzyklus Schichten in Gelb (RZ, S. 37‒39, vgl. S. 23). Bisweilen aber scheint die Farbe Gelb auch an die Markierungen zu erinnern, die seit dem Mittelalter die Juden ausgrenzend auf der Kleidung tragen mussten, mit der sie durch den Judenstern der Nazis zu Fortschaffung und Auslöschung bezeichnet wurden, wenn beispielsweise das zuvor erörterte Gedicht Geschichten in den gestischen Versen endet „Schichten | zerfallen | in gelbe Geschichten || schweigen“ (RZ, S. 111). Auf diese unverheilbar offene Wunde scheint mir die Farbe Rot durchgängig transparent, auch wo nicht explizit davon die Rede ist, wenn etwa im zugleich Buch- und Gedichttitel Rostige Zeiten (RZ, S. 66) primär und allgemeiner vom Verfallen, Brüchigwerden und Zerfall die Rede ist, von dem maroden Zeitalter, das weit nach dem goldenen und silbernen dem eisernen folgen muss und wird,[21] oder wenn im Titel Herbstbrand das prachtvolle Auflodern des ersterbenden Laubs der Bäume zugleich für apokalyptische Lohe und allemal für vergossenes Blut steht.[22] Das blutrote Leuchten vor dem Erlöschen ist in all seiner versehrlichen Schönheit nur der Widerschein der labyrinthischen Verkettungen und Netze und gibt Kundschaft von dem, was Worte nicht fassen können: „Rostig | spinnen sich | Waldketten | in | den Horizont || färben Kronen || Du | schenkst mir | in | kargen Stunden | neues | Herbstrot || Es verschweigt | nichts“ (RZ, S. 28). Während das „Ich“ in den Livay-Gedichten als träumerisch-nachtverhangen, bedroht, versehrt, liebes-, ja rausch-, wärme- und orientierungsbedürftig einigermaßen konsistent identifizierbar wird, scheint das angeredete „Du“ unterschiedlich besetzt. Wenn es nicht als eine nahe oder abschiednehmende Person fassbar wird, auf die die Sehnsüchte des „Ich“ projiziert werden oder gar (etwa in RZ, S. 35, 82) als Instanz der Selbstanrede des „Ich“, scheint es wie im hier letzterwogenen Gedicht (aber etwa auch RZ, S. 18f., 21, 25f., 29 36, 40, 46) ein metaphysisches Gegenüber, allmächtig, doch undurchschaubar, Erquickung und Glücksmomente, aber auch unsägliches Leid sendend, dem aber nie der Name „Gott“ gegeben wird. So lautet das „Epilog“-Gedicht Glut in der Broschüre poetischer Selbstdarstellungen des Lyris-Kreises mit ähnlich expresssiven Farbmetaphern Wenn | es dunkelt | halten | Stunden | den Atem an || Morsch | ächzt das Holz | unter | Tagresten | lässt das Schwarze | dunkler | werden || Rot | treten Kobolde | in | Nachtschwarz | nähren | Träume mit Glut || Du | brennst mich | leer[23] Die Verbrechen der Shoah, der Mord an den Verwandten, am eigenen Herkommen und Volk werden nie in diesen Gedichten beim Namen genannt, die sehr verhaltenen Bezüge darauf äußern nicht Anklage,[24] sondern Klage über fortwirkend versehrendes Leid. Ebenso wie in der Lyrik Paul Celans, dessen lyrisches Verarbeitungsbemühen freilich ‒ schon gar in Israel ‒nachklingt in allen Gedichten, die nach ihm dieses Thema berühren, gibt es auch keinen Begriff für das Unsäglich-Unsagbare. Hatte er es deiktisch anzudeuten versucht mit Formeln wie „das, was war“ oder „was geschah“,[25] dann lauten Yvonne Livays Hindeutungen ganz analog „alles, das war“ (das, was im Gedicht Zuletzt „wintrig“ den Rosen ihren Duft nimmt und in widernatürlich umgekehrtem Geburtsakt „Vergessenes […] tief | in | den Schoss“ wachsen lässt, RZ, S. 44) oder „Das Unfassbare“ (das im Gedicht Trotz allem „im Keim“ „schweigt“ und „den Schmerz“ „lenkt“: „Er reisst mich auf“, RZ, S. 50) oder noch andeutungshafter einfach „Gewesenes“ (das im Gedicht Im Kreuzgang II einem unter dieses Kreuz Gebeugten „in Spuren auf der Stirn“ aufgerissen erscheint, dessen Anhauch sich nicht abschütteln lässt: „Noch | hält er mich | eng | im Bann“, RZ, S. 71). Dieses Thema drängt sich der Autorin naheliegenderweise besonders auf bei Besuchen und Begegnungen in dem Land, von dem der Massenmord ausgegangen, in der Stadt, in der er organisiert worden ist. Im Zyklus Berliner Reigen gibt es auch unmittelbar auf gegenwärtig-touristisches Großstadterleben bezogene Impressionen, oberflächenbenannt in Titeln wie Innenhof, Im Biergarten, Auf dem Bahnsteig, Vorortszüge, oder solche, die konkret Berliner Örtlichkeiten mit den noch allenthalben wahrnehmbaren Spuren und Aromen der ost-westlichen Teilung (Ost ‒ West ‒ Ostlicht) benennen wie Am Scharmützelsee, Unter den Linden, Wannsee, Prinzessinnenpalais oder Checkpoint Charlie. Überall aber drängen sich hier unter der Oberfläche der „Wasserspiegel“ „stillgelegte Jahre“, „Urträume aus frühspäter Zeit“, „ein | dichtbeschriebenes | Geschichtsblatt“ hervor (RZ, S. 88), so wenn nahe der Alltagsgeschäftigkeit des vormaligen Ost-West-Checkpoints „die Schreie | noch klar | im Prinz-Albrecht-Palais | dröhnen“, also am einstigen Hauptsitz von Heydrichs Gestapo-Sicherheitsdienst, wo man 2010 ein Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ eingerichtet hat: „Bilder | fließen ineinander ‒ | es | würgt mich“ (RZ, S. 94). „Nordisch blond“ ist nicht nur das Bier der schon früh am Morgen Zechenden Im Biergarten, es „spiegelt | vikinghelles Haar | in | die Runde“: „Forsch | säuft sich’s schon | in | der frühen Luft || Der Tag | ist | noch jung“ (RZ, S. 87). Was, so kriecht da die Angst herauf, werden diese so recht ‚arisch‘ gezeichneten Kumpane treiben, wenn sie vollends in Rausch geraten? Wagners Bühnenweihfestspiel lässt in der Linden-Oper (vgl. auch RZ, S. 99, Prinzessinnenpalais) erstickenden Wagner-Wahn erstehen, „Tagtraumträchtig-schwer | legt sich | Parsifal | um meinen | Hals“ (RZ, S. 89); „Götterdämmerung ‒ | Kulturrausch | zu Kometenpreis || Nach Sekunden | wird | alles | Geschichte || das Gewesene | stahlwach“ (RZ, S. 92). Damit wird auch ein Bezug gestiftet zum ebenso die ideologischen Abgründe der Geschichte aufreißenden „Parsifal“-Monumentalgemälde (1974) des nachkriegsgeborenen Künstler-Kollegen Anselm Kiefer, dessen Ausstellung Fast nichts die Autorin im „Hamburger Bahnhof“-Moderne-Museum gesehen hat und dem (und seinen ausdrucksverwandt empfundenen schriftdurchsetzten und verbleiten Bildobjekten) das Gedicht Domino Reverenz erweist: „Linien ‒ | dazwischen | schweigen Worte || liegen in Schichten ‒ | Bleiworte | in Bleischichten | verbleit“ (RZ, S. 103). Nirgends freilich drängen sich die langen Schatten der Vergangenheit so bleischwer und giftig heran wie im Blick auf die Wannsee-Villa, wo auf der von Heydrich einberufenen, von Eichmann vorbereiteten und protokollierten ‚Wannsee-Konferenz‘ vom 20. Januar 1942 der systematische Mord an fast sechs Millionen Juden im Detail organisiert wurde. Explizit sagt das Gedicht nichts über die in gellende Stille dieses locus amoenus, mondänen Villenviertels und Freizeitparadieses versenkte Geschichtslast. Geschichtsunkundige, denen die Örtlichkeit nicht redet, können hier kaum verstehen, weshalb die im idyllischen Anblick verschwiegene Kunde des Geschehenen dem sprechenden Ich die Ohren zerreißt: Wannsee || Villa reibt sich | an Villa | strandtiefverankert || In Millionentiefe | schweigt | sich alles aus || Ich halte mir | die Ohren | zu || Sonnig spät | schieben sich Boote | den | Gärten entlang | reihen sich | versteinert | an | stramme Gärten || Am | andern Ufer | verstummt | der Tag (RZ, S. 91) Die gleich gebliebenen Gestade des Sees, die Gärten und Häuser selbst geben beredtes Zeugnis; wenige Villen und Gärten weiter war (seit 2006 ein Museum) das Sommerhaus des um die Erneuerung der deutschen Kunst verdienten jüdischen Impressionisten Max Liebermann, der von den Nazis aus dem Präsidentenamt der Akademie der Künste gedrängt wurde und dessen Grabstätten-Besuch (auch hier ohne Nennung eines Namens) das Gedicht Gestern. Jüdischer Friedhof Schönhauser Allee reflektiert: „Efeu | über allem […] Asche und Schutt | in Wunden […] Schatten um Gestirne | verschweigen | die Asche nicht“ (RZ, S. 102).[26] Liebermanns Wannsee-Villa wurde 1940 entschädigungslos enteignet, seine Witwe hat sich im März 1943 in der Nacht, ehe sie nach Theresienstadt deportiert werden sollte, das Leben genommen. Geradeso, in „verschlüsselten Botschaften“, nur in Andeutungen der „Zeilen zwischen den Zeilen“[27] werden die Abgründe der Geschichte auch im Zyklus Im Feindesland des Bandes Herbstbrand manifest, indem ähnlich wie im Berliner Reigen neben lebenszugewandt faszinierenden Impressionen der pulsierenden Großstadt und ihres Umlandes das verstörende Bewusstsein nicht zum Schweigen zu bringen ist, auf vermintem Boden zu stehen. Das Gedicht mit dem Zyklus-Titel Feindesland gibt im Untertitel die topographische Position an, auf die sich die Schilderung einer friedlichen Naturszenerie und der dadurch ausgelösten träumerischen Gedanken und Empfindungen bezieht: Feindesland || (Villa Schöningen an der Glienicker Brücke, Potsdam) || Grün | schmiegen sich Moose | um Wurzeln || über der Tiefe | verschattet || Mein Schlaf | harrt | in Ästen | oder | in kargen Spatzenblicken || spröde | und auch | traurigstill || Im Fenster | werden Märchen alt || verneigen sich | vor | dem Sommer || dem windverwehten (Hb, S. 36). ... Auf der Oberfläche eines Naturgedichts um Sommerwind, Bäume und Moos, von Sperlingen und vor dem einschlummernden Geist im Fenster des Hauses auftauchenden Märchen aus der fernliegenden Kinderzeit wird da Geschichtliches gar nicht verhandelt, wäre da nicht die von diesen Themen befremdlich abstechende Überschrift und mit ihr die Ortsangabe, die auch unter diesem Idyll die vom Wurzelgeflecht abgeschatteten Abgründe emblematisch heraufbeschwört, ähnlich wie beim Wannsee-Gedicht. Zunächst denkt man bei der Glienicker Brücke, die hier zwischen dem Berliner Stadtteil Wannsee über die Havel in die „Berliner Vorstadt“ von Potsdam führt, damit in der DDR-Zeit für normalen Personenverkehr gesperrt im mauer-gesicherten Grenzsperrgebiet zu West-Berlin lag, ab Brückenmitte „Feindesland“ zum je anderen System, und an die zahllosen Medienberichte über diese Brücke als Ort der zwischen 1962 und 1986 häufigen west-östlichen Agenten-Austäusche, vorrangig vermittelt vom auch durch die spektakulären Häftlingsfreikäufe bekannt gebliebenen Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Deshalb wurde diesem Brennpunkt überbrückter Feindseligkeiten kurz nach der Wende 1998 eine gesamtdeutsche Briefmarke gewidmet und wurde die neben der Brücke von der Sperrzone umschlossen gewesene Villa Schöningen 2009 zu einem Ausstellungshaus. Aber die am Ort haftenden Stufungen historischer Traumata reichen tiefer hinab als bis in die Ära des kalten Kriegs, nicht nur dadurch, dass die heutige Brückenkonstruktion am Jahrhundertbeginn als „Kaiser-Wilhelm-Brücke“ erbaut worden war und sich so verband mit Reminiszenzen an den preußischen Militarismus. Die im Gedichttitel explizit erwähnte Villa vielmehr war der Geburts- und später auch Wohn- und schließlich Sterbeort des jüdischen Bankiers Paul Wallich, Sohn des Gründers der Deutschen Bank und persönlich haftender Gesellschafter der Dreyfus-Bank, der sich hier nach der „Arisierung“ seiner Bank, deren Abwicklung er noch persönlich durchführen musste, am 11. November 1938, nach dem Bekanntwerden der Gräuel der ‚Reichskristallnacht‘, das Leben genommen hat (woran heute ein Potsdamer ‚Stolperstein‘ erinnert). Solches also sind die „alten Märchen“ oder ‒ um mit Heinrich Heine, mit dem letzten Gedicht im Buch der Lieder und mit seinem Dichterliebe-Vertoner Robert Schumann (op. 48, Nr. 15/16) zu sprechen ‒ „Die alten bösen Lieder, | Die Träume schlimm und arg“, von denen nur zwischen den Zeilen die Rede ist. Die andeutungs- und zeichenhafte, traum- und alptraumgetragene poetische Reflexion der nicht zu verdrängenden Geschichtsbetroffenheit verbinden sich der Autorin im Zyklus Feindesland (Herbstbrand-„Kapitel 2“) ebenso wie in Gesang („Kapitel 4“) mit musikalischem Erleben. In Konzerten oder in der Oper haben sich ihr, so verrät sie im autobiographischen Text, viele ihrer Gedichte ungeplant und halb unbewusst geformt, so wie sie auch oft durch den rumpelnden Rhythmus und durch das Hinausträumen in Eisenbahn und Flugzeug angestoßen wurden.[28] Das Zerfallen des Traumes, der „blutrot“ am Boden zerschellt und die in ihre Träume Geflüchtete bis an ihr Ende zwischen versehrlich spitzen Scherben eingefangen hält, erzählen die durch das Anhören von Ramuz/Strawinskis L’histoire du Soldat in der Berliner Staatsoper angestoßenen Verse „Schritt | für Schritt | schleppen | Saiten den Traum | der Stunden || Er | sonnt sich | gläsern kalt | und taubedeckt || Schritt um Schritt | zerfällt er || färbt die Erde | blutrot || Und ich schwanke | zwischen | Splittern | bis der Tag | sich neigt“ (Hb, S. 32). Unter den namentlich auf den vom Impressionismus zur Avantgarde vorstoßenden Komponisten und Chef d’orchestre Pierre Boulez bezogenen Gesang-Gedichten kommt das erste, Dérive I (Pierre Boulez) Apokalypse, auf den Weltzusammenbruch zurück, wie ihn Frau Lot erstarrend vor Sodom und Gomorrha schauen musste: „Weissglut | auf der Stirn | im Herzmuskel | reisst | sich Röte | in den Grund“ (Hb, S. 58). Und die Hommage an den sowohl in seiner Musik wie in seiner (wie bei Anselm Kiefer) fahle Grautöne bevorzugenden Malerei das Tor zur Kunst und Lebenserfahrung der Moderne aufstoßenden Arnold Schönberg, grau ‒ weiß ‒ grau || A. Schönberg, | fünf Stücke für Orchester kulminiert in Versen, die das Aschengrau und das Grauen der noch nicht fernen Vergangenheit zusammenklingen lassen: „Gestern und Gestern || haschen | sich | im Grautraum | in | der fahlen Asche | bäumt sich | der Regen | löscht | mich in der Weisse“ (Hb, S. 67). Yvonne Livay: The grey Box (Die graue Schachtel), Holz- und Draht-Objekt, 50 x 60 x 100 cm (2013). Eine ähnliche Plastik ist abgebildet in Livay: Die Frau mit der Lotosblume. Berlin: rainStein 2020, S. [239]. © Yvonne Livay In ihrem Dokumentarbuch über die mütterliche Familie hat Yvonne Livay eher spröde und mühsam nach Worten suchend angedeutet, wie sie „das Gefühl einer stetig anwachsenden Last, die untragbar wurde und deren ich mich entledigen musste“ immer wieder in die künstlerische Arbeit in der Malerei, Bildhauerei und Graphik wie in der Musik und eben auch in der Poesie gedrängt hat: „So war es mir möglich, die bitteren Ereignisse der Vergangenheit auf eine gewisse Weise zu verarbeiten und kreativ zu entfalten.“[29] „Nur dank meiner künstlerischen Arbeit war und bin ich in der Lage, eine teilweise Verarbeitung der emotionellen Belastung durch die harten Tatsachen aufgrund der bitteren Ereignisse im Holocaust zu erreichen.“[30] Für sie selbst hat also ihre so zurückhaltend wichtiges Zeugnis ablegende Kunst eine auch therapeutische und allemal kathartische Funktion, ist emotionale Überlebenshilfe nach dem, „was war“, gibt der sich auch im Altneuland unbeheimatet Fühlenden eine Sphäre des Zuhauseseins: „Als Heimat betrachte ich Kulturinseln, die man mir nicht wegnehmen kann und die es mir ermöglichen, Kreativität zu entfalten und darin Wurzeln zu schlagen, um der Realität gewachsen zu sein.“[31] Dem gibt in Rostige Zeiten das Gedicht Im Nachklang in typisch Livay’schen Paradoxen und im ebenso charakteristisch durch die zu Türmen geschichteten lakonisch gebrochenen Verse stockend-zögerlichen Ausdruck: Im Nachklang | hängen | sich | neue Schatten | in | den Tag || frühspät erhofft || möglich | unmöglich || Nachklang | umfliegt mich || nimmt mich | in | den Bunker || Nun | können Schatten | nichts | mehr tun || nur sein (RZ, S. 76). Prof. em. Dr. Hans-Jürgen Schrader Département de langue et de littérature allemandes Université de Genève Switzerland [1] Im „Epilog III“ zu ihrer Mutter-Familien-Spurensuche, Yvonne Livay: Die Frau mit der Lotosblume. Eine Dokumentation. Berlin: rainStein-Verlag, 2020, S. 258 berichtet die Autorin, sie habe „während langer Zeit Häuser gemalt, die im Bau waren“ und auf den modellgebenden Baustellen die rostigen Drahtreste aufgefunden, die dann das Material wurden für ihre Serien von Kronen- und Spinnen-Skulpturen. Die Neubau-Thematik hat sie auch poetisch verarbeitet, vgl. ihr Gedicht Wintermärchen: „Betonrohre | die | in der | Sonne | Wärme | tanken || Gelbe | Stahlhelme | zwischen | lehmnassen | Steinhaufen | und | wurzeltiefen | Gruben“. In: Lyris. Deutschsprachige Dichterinnen und Dichter in Israel. Vorgestellt von Dorothee Wahl. Frankfurt a.M.: beerenverlag, 2004, S. 79. [2] Yvonne Livay: Rostige Zeiten. Lyrik und Graphik. Berlin: rainStein-Verlag, 2010 (Deutschsprachige Lyrik aus Israel bei rainStein, Bd. 3). Redaktion: Dörthe Kähler, Gedicht: S. 100, Nachweis der Umschlag-Abbildung im Impressum, S. [2]. Weitere solcher Neubau-Gemälde sind ebd., S. [29] und [69] abgebildet. [3] Vgl. Livay: Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1), (Epilog „Heimat und Identität“) S. 277: „Auch ich gehöre zum Heer der Heimatlosen, die sich nirgends ganz zu Hause fühlen und immer auf einer Wanderung befinden. Obwohl ich seit Jahren in Israel lebe und an Familienangehörige, Freunde und kulturelle Kreise gebunden bin, fühle ich mich überall auf der Reise und irgendwie auch als Außenseiter, außer in den Künsten.“ [4] Livay: Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1), S. 252 (Epilog II): „Außer trivialen Ereignissen, die das Haus betrafen, durften Angst, die bittere Lebenslage, ständige Todesgefahr und die brutalen Geschehnisse nicht erwähnt werden. Alle Schriftstücke wurden von der Zensur kontrolliert“. Vgl. ebd., S. 21–27. Der Enkel der Dichterin, Shai Livay, kennzeichnet die v.a. ihm und den weiteren fünf Enkeln gewidmeten Dokumentation „Es ist ein Buch über Tod und Leben aufgrund von Briefen und Postkarten, die aus dem Ghetto in Dombrowa-Gornitza an meine in der Schweiz wohnhafte Urgroßmutter [Yvonnes Mutter Sala („Salunka“) Dancygier] abgesandt wurden […] in den Jahren 1940–1943“, ebd., S. 279. Die Zusammenführung der Ghetto-Briefe mit den parallel einsetzenden, bis in die Fünfziger Jahre fortgesetzten Briefen der Mutter an den in Basel wirkenden Zürcher Kunstmaler Ermanno Boller (1908–1981), dessen Freundschaft ihr half, das Grauen zu bewältigen, und dem sie als bevorzugtes Modell diente, erklärt sie als Versuch einer „Verbindung von Tod und Leben, die sich zu einem Kreis schließt“, S. 259. [5] Vgl. ebd. S. 252, 257, 259. Die meisten Informationen über ihre biographischen Details sind aus den persönlichen Erläuterungen und Stellungnahmen in diesem Buch zu erheben, während die Angaben zu ihrer Vita in allen früheren Publikationen auf karge Grunddaten beschränkt blieben. [6] Yvonne Livay: Herbstbrand. Lyrik und Ölgemälde. Berlin: rainStein Verlag, 2011 (Deutschsprachige Lyrik aus Israel, Bd. 6), S. 50. Die Sammlung (Zitate im Text nachfolgend belegt mit der Sigle Hb und Zeitenzahl) ist eingeteilt in Zyklen, die wie in längeren Erzähldichtungen „Kapitel“ benannt sind ‒ analog etwa zu Bertolt Brechts Hauspostille mit ihrer Einteilung in „Lektionen“, die hinauslaufen auf ein „Schlusskapitel“ mit einem „Anhang“. [7] Über diese Künstler- und Poetenvereinigung und ihre eigene Mitwirkung reflektiert Yvonne Livay: Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1), S. 270–273. Vgl. jüngst im Überblick (von einem der aus Deutschland hinzugekommenen „Lyris“-Jungmitglieder) Jan Kühne: „Deutschsprachige jüdische Literatur in Mandats-Palästina / Israel (1933–2014)“. In: Hans-Otto Horch (Hg.): Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur. Berlin, Boston: de Gruyter, 2016, S. 201–220, Young-Ae Chon: „Eingeinselt mit der Sprache: deutschsprachige Lyrik aus Jerusalem. Manfred Winkler und der Lyris-Kreis“. In: Chon: Grenzgänge der poetischen Sprache. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2013. Grundlegende Anthologie Wahl: Lyris (wie Anm. 1). Darin von Yvonne Livay ein Photoporträt, ein Biogramm, Proben ihrer Skulpturenobjekte (Masken) und Ölbilder sowie fünf Gedichte S. 70–79. – Nach Einzelbänden mit Gedichten Manfred Winklers, überwiegend im Aachener Rimbaud-Verlag, erschien als kommentierte gesamthafte Edition, auch mit Texten aus Zeitschriften, Anthologien und dem Nachlass sowie einem Nachwort, Manfred Winkler: Haschen nach Wind. Die Gedichte. Hg. v. Monica Tempian und Hans-Jürgen Schrader. Wien, Wuppertal: Arco-Verlag, 2017 (Europa in Israel, Bd. 2). – Ebenso wie ihre Erinnerungsbände (Ein Kind aus guter Familie. Czernowitz 1924–1944, 2006, und Zeitläufe – ein Brief. Mit einem Vorwort von Rob Riemen, 2009) erschienen die Gedichte der Celan-Freundin Ilana Shmueli im Rimbaud-Verlag, Aachen: Zwischen dem Jetzt und dem Jetzt (2007) und Leben im Entwurf (aus dem Nachlass mit einem Nachwort von Matthias Fallenstein, 2012). – Der Berliner rainStein-Verlag brachte von „Lyris“-Autoren neben den drei genannten Bänden von Yvonne Livay auch von Eva Avi-Yonah die Autobiographie Aus meinen sieben Leben (2009) und die Lyrikbände Brennpunkt (2010, Deutschsprachige Lyrik aus Israel, Bd. 2) und Tagewerk (2011, Deutschsprachige Lyrik aus Israel, Bd. 5) heraus, von Magali Zibaso die Gedichtzyklen Augen (2007, 2. Aufl. 2010) und Winde über Jerusalem (2011). Ihr ist auch die deutsche Ausgabe zu verdanken von Irit Amiel (1931–2021): Gezeichnete. Gedichte vom Überleben. Aus dem Hebräischen von Magali Zibaso. Berlin: Suhrkamp /Jüdischer Verlag, 2015. Die Lyrik von Haim Schneider: Betrachtungen / Reflections. Zweisprachige Gedichte für nachdenkliche Leute erschien im Gefen Publishing House, Jerusalem, New York, 2010. Den Lyris-Kreis – auch Yvonne Livay – bei einem der Leseabende zeigt der Fernsehfilm von Gerhard Schick: Der Klang der Worte – Deutsche Sprache in Jerusalem (München: Verlag Goethe-Institut / Lyrik-Kabinett, 2008, 74 min.); ein Ausschnitt findet sich im Internet unter https://www.youtube.com/watch?v=mHa67i9t2J0 (Zugriff 6.2.2022). [8] Zu Manfred Winkler vgl. Monica Tempian: „Zwischenwelten: Manfred Winklers Gedichte der Übergangszeit nach 1959“. In: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas 215/2, S. 97‒105; Hans-Jürgen Schrader: „‚Gottes starres Lid‘ – Reflexionen geographischer und metaphysischer Grenzen in der Lyrik Manfred Winklers“. In: Deutschsprachige Öffentlichkeit und Presse in Mittelost- und Südosteuropa (1848–1948). Hg. von Andrei Corbea-Hoişie, Ion Lihaciu und Alexander Rubel. Konstanz: Hartung-Gorre, 2008 (Jassyer Beiträge zur Germanistik, Bd. 12), S. 91–116; [auch zu Ilana Shmueli:] ders.: „‚Ich lebe in meinem Mutterland Wort‘. Sprache als Heimat und Poesieimpuls in deutschsprachi­ger jüdischer Lyrik der Emigration und in Israel“. In: Auf den Spuren der Schrift. Israelische Per­spektiven einer internationalen Germanistik. Hg. von Christian Kohlross und Hanni Mittelmann. Berlin: de Gruyter, 2011 (Conditio Judaica, Bd. 80), S. 163–189 und ders.: „Poetische Celan-Reminiszenzen und Erinnerungen an seinen Israel-Aufenthalt 1969 im Jerusalemer Lyris-Kreis, bei Ilana Shmueli und Manfred Winkler“. In: Exilerfahrung und Konstruktion von Identität 1933 bis 1945. Hg. von Hans Otto Horch, Hanni Mittelmann und Karin Neuburger, Berlin: de Gruyter, 2013 (Conditio Judaica, Bd. 85), S. 65–98; zu Haim Schneider ders.: „Haim Schneider – Erinnerung an einen Jerusalemer Lyriker aus Wien“. In: Österreich. Geschichte – Literatur – Geographie 61 (2017/2 [391]): Fremd / vertraut. Zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. von Martha Keil, S. 192–198. [9] Redaktion: Ada Brodsky und Andrea Ulbrich, Jerusalem 2008, 60 Seiten (unpaginiert) mit sechs Porträtzeichnungen von Yvonne Livay sowie Gedichten und Biogrammen der sechs Beitragenden, hier das Livay-Halbporträt auf S. [28] und sechs ihrer Gedichte, S. [29]‒[34]. [10] Auch der Verfasser dieses Beitrags hat das zusammen mit seiner Frau bei häufigeren Arbeitsaufenthalten wie auch Besuchen im Land wiederholt erfahren dürfen. [11] Berliner Reigen in Livay: Rostige Zeiten (RZ, wie Anm. 2), S. [85]‒104, Feindesland in Livay: Herbstbrand (Hb, wie Anm. 6), „Kapitel“ 2, S. [31]‒38. [12] Im Text künftig aus pragmatischen Gründen nicht als Worttürme, sondern mit diakritischer Kennzeichnung des Zeilenfalls | bzw. der Strophengrenze || zitiert und am Zitatschluss belegt mit der Sigle RZ (für die Sammlung Herbstbrand mit Hb) und der Seitenzahl. [13] Vgl. die entsprechenden autobiographischen Aufschlüsse im Erinnerungsbuch Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1) zu den Wohnorten Zürich (etwa S. 21, 257), Fribourg, Bern, Basel und Birsfelden S. 10f., 235 zu den Davos-Sanatoriumsaufenthalten nach Kriegsende S. 207f. und 213, zu Ferienstammquartieren während der Schulzeit S. 230‒232; Kindheitsbilder zusammen mit der Mutter S. 193 und mit Mutter und Schwester S. 199, zum Moskau-Aufenthalt S. 245 und zu Ausstellungs- und Lesereisen von prägender Bedeutung auf Schloss Gollwitz/Brandenburg S. 18, in Berlin S. 260, in Terezín/Theresienstadt S. 257f. und im münsterländischen Schöppingen S. 18. Eine Reminiszenz an Wahrnehmungen und Empfindungen der Kinderzeit, wie sie so häufig zutage treten in den Gedichten Celans, Mascha Kalékos, Winklers oder Ilana Shmuelis, bleibt unplastisch und surreal, im Gedicht Jenseits mit einem aus der Tiefe der Erinnerung aufsteigenden Fenster-Ausblick in Zürich: „Eigentlich | gleicht der Tag | den Birken | im | Hof meiner Kindheit“. In Livay: Herbstbrand (wie Anm. 6), S. 50. Die schweizerische Prägung ist in den Gedichten bloß an der (von der Verlagsredaktion nur in den Überschriften normalisierten) orthographischen Besonderheit erkennbar, dass häufig auch nach Langvokal oder Diphthong „ss“ anstelle des standarddeutschen „ß“ verwendet wird. [14] ‚es stand | Jerusalem um uns‘. Jerusalem in Gedichten des 20. und 21. Jahrhunderts. Hg. v. Birgit Lermen und Verena Lenzen. Unter Mitarbeit von Max Kerner. Mönchengladbach: B. Kühlen Verlag, 2016. Yvonne Livay: Meine Klagemauer, S. 161 (vielleicht ein Antwortgedicht auf Manfred Winklers im selben Band abgedrucktes, sehr viel konkreter lokalbezogenes Gedicht Vor der Klagemauer, ebd., S. 119, vgl. 177) und dies.: Jerusalem Nocturno, S. 162. Dieselbe Konstellation (vgl. S. 182) präsentierte auch schon der Band, aus dem diese Anthologie schöpfte, SprachLos. Gedichte aus Jerusalem. Hg. von Ingeborg Ronecker, Stuttgart: Ronecker Verlag, 2005, S. 95f. (Livay) und 98 (Winkler). [15] In: Lermen / Lenzen: „es stand Jerusalem um uns“ (wie Anm. 14), S. 162. Einen noch weit verhalteneren Jerusalem-Anklang gibt das Gedicht Unendlich III mit der Evokation der Tempelwand als ‚Briefkasten Gottes‘ und zugleich hochgesicherter Trennlinie beständiger Feindseligkeiten zwischen den Religionen und Völkern Israels, „Worte | häufen sich | an der Mauer | in schrägen Windwinkeln | Hoffnung | verstummt“ sowie dem allgegenwärtigen, ihr ‚Sehnen dehnendem‘ Jammern der Katzenscharen, Livay: Herbstbrand (wie Anm. 6), S. 21. [16] Zur theoretischen Grundlegung vgl. Bertolt Brechts Essay von 1938, „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“, in ders.: Über Lyrik, 3. Aufl., Frankfurt 1968 (edition suhrkamp, Bd. 70), S. 77‒87, 77‒81. In einem Brief vom 1.2.2022 an den Verfasser dieses Beitrags schreibt Yvonne Livay: „Die Worttürme entstanden, da ich denke, dass allgemein zu viel gesprochen wird und niemand zuhört. Wenn die Sätze kurz sind, dann bekommen einzelne Worte ein anderes Gewicht. Während des Schreibens denke ich jedoch keinesfalls an diese Dinge.“ Und: „Die meisten Gedichte entstehen wie Rinnsale, die aus einer morschen Mauer herausfliessen. Gedichte sind für mich Seiten aus einem Tagebuch, das nicht an Daten gebunden ist.“ [17] Das Spinnen- und Spinnweb-Motiv im Bedeutungsspektrum der Unentrinnbarkeit verbindet das lyrische mit dem graphischen und bildhauerischen Werk, vgl. die Abbildung aus der „Network“-Serie Rostige Zeiten (wie Anm. 2), S. [119] und die motivverwandte Radierung S. [106] sowie den „Spinnwinkel“ ebd., S. 115, die Spinnen-Plastik rings um die stilisierte graue Schachtel mit den Ghetto-Briefen der Familie in Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1), S. [239], vgl. ebd., S. [7], 19f., 259 oder die Spinnen- und Raupenkokon-Gedichte in Herbstbrand (wie Anm. 6), S. 18. 48, 72. [18] Vgl. das Gedicht Im Schlafwandel, in dem „Mondhofreste“ in den Tag hinüberragen, so wie die Träume Tagesreste verarbeiten, in Rostige Zeiten (wie Anm. 2), S. 62. Der trügerische Widerschein des umflorten Mondes wird in den Gedichten häufig thematisiert (auch ebd., S. 36, 38, 58). [19] H.C. Artmann: Grünverschlossene Botschaft. 90 Träume, gezeichnet von Ernst Fuchs, Salzburg 1967. [20] Auch das wiederholt aufgegriffene Maskenmotiv hat seine Entsprechungen im plastischen Werk der Künstlerin, besonders eindrücklich in den aus gummiartigem Material geformten Maskenplastiken Five Seasons in Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1), S. 130, andere solche Maskenobjekte in Wahl: Lyris (wie Anm. 1), S. 72f. In Rostige Zeiten tritt das Motiv bereits im Titel in den Gedichten Pierrot lunaire und Commedia Dell’ arte hervor (S. 51 und 72). In ihrem die Eigenart der Livay’schen Lyrik hochsensibel deutenden Vorwort zu Herbstbrand schreibt die Verlegerin und Redaktorin des Bandes, Dörthe Kähler, über die Motiv-Wiederkehr dieser „Masken, auch verhangenen Totenmasken“: „Sie wirken wie Gestaltgebungen der lang Verlorenen und Vermißten, ein nicht endendes, inniges Requiem, das Yvonne Livay den Ermordeten darbringt.“ Herbstbrand (wie Anm. 6), S. 6f. [21] Im Titelgedicht Rostige Zeiten brechen sich die aus der Verdrängung heraufdrängenden „Zeitgeflechte“ „trotz allem“ als „Altneuzeiten | rotrostig breit | in | meinen Traum“, was doch in der Anspielung auf Theodor Herzls zukunftsoptimistischen zionistischen Roman Altneuland (1902, dessen hebräische Übersetzung Tel Aviv später der Einwanderungsstadt ihren Namen gab) einige Skepsis gegenüber der Realsituation in Israel anklingen lässt. [22] So gleichen die herbstlichen Baumkronen der im Band reproduzierten Livay-Gouachen eher Feuerbränden und Flecken frischen oder halbgetrockneten Bluts als herbstlichen Baumkronen, Herbstbrand (wie Anm. 6), S. [15]: „Madness“ , [29]: „ Red“, [41]: „Red Moon“, [55]: „Cantus“, vgl. die Titelangaben, S. 79, auch die Baum-Gouachen in Wahl: Lyris (wie Anm. 1), S. 74 (auf einen Wiederabdruck solcher Farbbildwerke muss hier aus technischen Gründen leider verzichtet werden). Entsprechend heißt es in Winterballaden II ‒ Sanguine (in der Dreifachbedeutung des Wortes: Blutorange, das Mineral Hämatit [Blutstein] und das daraus gefertigte Mal-Utensil, der Rötel-Farbstift) wie ein Menetekel: „Blutrot | strömt es | aus | Steinritzen […] rostigzäh […] Blutrot | pocht der Stein“ (Herbstbrand, S. 25, ähnlich S. 32). Der Bezug auf die Shoah ist auch manifest, wenn es im Gedicht Erinnerungen ‒ Terezin 2010 vom Sonnenaufgang zwischen Traum und Tag heißt „Blutrot | spannt sich der | Bogen | am Horizont“ (ebd., S. 74). In ihrer „langfristigen Ausstellung im Ghettomuseum in Theresienstadt“ hatte Yvonne Livay vorrangig ihre „Drahtobjekte“ aus Rostdrähten gezeigt, Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1), S. 257f.; dort über die sorgsam bewahrten Rötel- (Sanguine-)Kinderporträts, die der der Mutter befreundete Maler Ermanno Boller von ihr und Schwester Charlotte gefertigt hat, ebd., S. 217. [23] [Brodsky:] Lyris-Kreis (wie Anm. 9), S. [38]. [24] Selbst in der Dokumentation des Leidens und Untergangs der eigenen Familie wird eine Anklage der schuldigen Deutschen vermieden und ‚der Krieg‘ für das Unmenschliche verantwortlich gemacht: „Unser Leben wäre bestimmt ganz anders verlaufen, hätte dieser bittere Krieg nicht die unfassbare Anzahl von Menschenleben ausgemerzt und so unser Schicksal bestimmt.“ Livay Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1), S. 251. [25] Vgl. dazu Hans-Jürgen Schrader: „Celans Gedichte nach Auschwitz. Reflexionen zum Eintritt in sein hundertstes Lebensjahr“. In: Österreich. Geschichte ‒ Literatur ‒ Geographie (ÖGL) 64 (2020/2), S. 116‒132, hier insbes. S. 121 sowie im Blick auf intertextuelle Bezugnahmen im Jerusalemer Lyris-Kreis ders.: „Poetische Celan-Reminiszenzen“ (wie Anm. 8). [26] Auf demselben jüdischen Friedhof im Bezirk Prenzlauer Berg, der seit dem Bau der größeren Anlage in Weißensee nur mehr sporadisch belegt wurde, hier von der musik-affinen Yvonne Livay sicher ebenso aufgesucht, ist auch der 1864 in Paris verstorbene Giacomo Meyerbeer beigesetzt. [27] Mit diesen Begriffen belegt Yvonne Livay die verdeckten, dem unsensiblen Zensorenauge verborgen bleibenden Nachrichten der Ghetto-Briefe der mütterlichen Verwandtschaft, Livay Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1), S. 27. [28] Vgl. die entsprechenden Selbstaussagen in Livay Die Frau mit der Lotosblume (wie Anm. 1), S. 261 und 277. [29] Ebd., S. 259. [30] Ebd., S. 180f. [31] Ebd., S. 277. Hinweis: Die hier mit freundlicher Genehmigung des Verfassers gekürzt wiedergegebene Studie ist vollständig veröffentlicht und nachzulesen, Hans-Jürgen Schrader: "Ziegel und Aschentürme auf Säulen“. Zur Lyrik der Jerusalemer Maler-Dichterin Yvonne Livay. In: Explorations in Literary History / Literaturgeschichtliche Erkundungen. Festschrift in Honour of Florian Krobb. Hrsg. von Jürgen Barkhoff, Siobhán Donovan und Leesa Wheatley. Konstanz: Hartung-Gorre Verlag 2022 (Germanistik in Ireland. Jahrbuch / Yearbook of the German Studies Association of Ireland, GSAI), Bd. 17 (2012), S. 171-190.

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