Trauer kann helfen, zu verstehen.
Was ist die Essenz von Freiheit? Dr h.c. Bergel, der ein Landsmann und Wegbegleiter Manfred Winklers war, übergab rainStein einst diese eindrückliche Rede. Kurz vor Pessach und Karwoche spricht sie uns wieder an:
Trauer im Zeichen doppelter Erschütterung
(Rede zum Volkstrauertag 2008)
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Toten zu gedenken, heißt zwangsläufig, sich des 20. Jahrhunderts zu erinnern. Wer an dem Jahrhundert teilhatte und seinen Ereignissen ausgesetzt war, wird nicht loskommen von ihm, solange er atmet. Man hat es das Jahrhundert der Massenmörder genannt, die Zahl ihrer Menschenopfer wurde von Historikern auf Größen veranschlagt, die unfasslich anmuten. Die Art des Sterbens kannte dabei Formen, die angetan sind, auch künftigen Generationen die Schauer über den Rücken zu jagen. Als ich im Januar 1962 als politischer Strafgefangener in einem Zwangsarbeitslager an der unteren Donau bei 32 Kältegraden die Hand des sterbenden 28-jährigen Arztes Dr. Mehedinţ in meiner Hand hielt, bis sie erkaltete, hatte ich eine dieser Formen kennen gelernt. Der Uniformierte, der dem Arzt mit dem Schlag eines Spatens den Schädel zertrümmert hatte, weil er mit dem vollbeladenen Schubkarren auf dem vereisten Brettersteg gestürzt und nicht schon in derselben Sekunde wieder aufgestanden war, hatte sich nach dem Hieb vor uns aufgebaut, sich eine Zigarette angezündet und zwischen zwei Zügen in die vom Blut roten Schneebrocken neben dem Gesicht mit den erloschenen Augen gespuckt, hinter sich zwei Bewaffnete der Eskorte unseres Arbeitstrupps, die auf mich gerichteten Maschinenpistolen in den Fäusten. Wenn ich in den folgenden Minuten der Toten im ehemaligen riesigen Herrschaftsbereich kommunistischer Diktatoren gedenken soll – wie mein Auftrag für diese Feierstunde lautet –, kann ich es nur im Zeichen der Teilhabe an Bildern wie diesem tun. Die Zahl der Variationen solcher Bilder ist unbegrenzt, die Vielfalt schmerzhaften Rückblicks ebenfalls, und die Auffassung vom Tod als einem zum Ganzen unseres Daseins gehörenden natürlichen Teil verliert für mich jenen Akzent an Verbindlichkeit, die ihm nach meinem Dafürhalten in unserer redseligen Welt allzu schnell zugesprochen wird. Denn auch ich erfuhr, wie viele andere, dass es Tode gibt, die nicht zu den natürlichen Abschlüssen eines Menschenlebens zählen, sondern als finale Vergewaltigungen erscheinen, die mit dem Leben der Menschen, die sie wehr- und schuldlos erdulden mussten, auf „natürliche“ Weise nicht das Geringste zu tun haben.
Fratze der Unmenschlichkeit
Wie anders nämlich zwingt uns das 20. Jahrhundert dank seiner Scheußlichkeiten, heute über diese letzte aller Fragen zu befinden, als es vorhergehende Epochen vermochten. Wenn z.B. Goethe vom Schicksal des Menschen spricht und einem jeden jene Art des Todes als zugemessen erachtet, „die analog zu seinem Leben sei“, wie er als Zweiunddreißigjähriger schrieb, dann kommt das aus der Sicht der Erfahrungen unserer Toten des 20. Jahrhunderts deren Verhöhnung gleich. Kein Denkender und Fühlender wird sich zur Behauptung erkühnen, dass die im genannten Jahrhundert gewaltsam zu Tode Gebrachten ihren letzten Atemzug unter Umständen taten, die ihrem „Leben analog“, das heißt angemessen waren – ohne dass Goethe wegen der Briefstelle eine Vorhaltung verdiente: Denn wie hätte er sich ausmalen können, welche Art von Toten es im Gefolge des 20. Jahrhunderts zu betrauern gilt? Sicher, es gab auf den Schlachtfeldern der Kriege, auf den Wegen der Fliehenden, auf den Kampfplätzen der Revolutionen in den Jahrhunderten vor dem zwanzigsten genau so unter Qualen ihr Leben aushauchende Menschen: es gibt in der Geschichte – Gott sei ‘s geklagt! – seit jeher die perverse Art des Tötens. Doch niemals vorher in diesen Dimensionen, und die Anschauung des spezifischen Grauens um das Sterben, wie es uns ins Gedächtnis gebrannt ist, hatten die Menschen vorhergegangener Zeiten weder nach Form noch nach Ausmaß. So steht unsere Trauer im Zeichen doppelter Erschütterung: sie erschien in dieser Quantität und Qualität ehemals undenkbar. Das Herkömmliche in der Betrachtung des Todes, im Verständnis der Trauer – wenn es denn so etwas gibt – verlor seit dem 20. Jahrhundert an Gültigkeit. Wer z.B. befreit mich von der historisch gebrandmarkten persönlichen Trauer um meinen Freund Fürst Alexander Ghika, der sich zuerst – um mich nicht der Bukarester kommunistischen Geheimpolizei „Securitate“ zu verraten – die Knochen brechen ließ und Jahre später, als er gezwungen werden sollte, Freunde auszuhorchen – darunter mich –, sich 45-jährig erhängte? Es gibt Millionen Menschen, denen sich die vergleichbare Frage stellt.... Eingedenk dieserart zu Tode Gekommener verbietet es sich mir, schonungsvoll in Allgemeinplätzen hier zu reden. Ich sehe mich vielmehr vor den Anspruch gestellt, den geraden Blick in die Fratze der Unmenschlichkeit zu ertragen. Alles andere wäre Lüge. Der französische Historiker Stéphane Courtois, der mit dem Monumentalwerk „Das Schwarzbuch des Kommunismus“ weltweit die Geister erregte, kreidet den kommunistischen Systemen des Ostens rund einhundert Millionen umgebrachte Menschen an; wörtlich: „Alles in allem kommt die Bilanz der Zahl von hundert Millionen nahe.“ Während er davon für die Sowjetunion 20 Millionen festhält, die er den „Verbrechen gegen Personen“ zuzählt, gehören zu der von ihm errechneten einen Million tödlicher Untaten in den kleineren Moskauer Satellitenstaaten auch die in der DDR, das heißt auf deutschem Boden begangenen. Der in diesem Jahr neunzigjährig verstorbene Russe Alexander Solschenizyn kam bei seinen Erhebungen für den sowjetischen Bereich auf erheblich höhere Zahlen. Die an den Kriegsfronten Gefallenen nicht einbezogen. Erschreckt uns die Ziffer, so lässt uns die Vergegenwärtigung der Einzelschicksale, die hinter ihr stehen, in einem Zustand profunder Irritation zurück. So schrieb der Bukarester Zeithistoriker und Publizist Romulus Rusan: „In jedem Atom dieses Universums des Leids verbirgt sich ein Mensch, der die Kreise der Hölle durchmaß (....) Jeder Fall für sich betrachtet wühlt den Kenner der Materie stärker auf als die abgeschlossene Statistik (...) Der Blick ins einzelne Gesicht macht mehr verständlich als der Anblick ganzer Sklavenkolonnen. Der (54-jährige) Historiker, der in der Gefängniszelle durch Hunger ‚liquidiert’ wurde, weil er sich geweigert hatte, seine Schriften zu verleugnen; der 70-jährige Oberst, der an allen Fronten des Krieges gekämpft hatte und dann an der Blutvergiftung zugrunde ging, die er sich als Häftling bei der Zwangsarbeit auf den Reisfeldern als Folge der Hautverletzungen durch Blutegel holte; die drei Kinder – ein einjähriger Zwilling und dessen älterer Bruder –, die in der Erdhütte der Donausteppe erfroren (wohin ihre Familie mit Tausenden anderer zwangsverschickt worden war); der Student, der sich entleibte, um die Torturen der (mit unvorstellbaren Methoden in den Gefängnissen betriebenen) ‚Umerziehung’ nicht mehr ertragen zu müssen; der Bauer mit einem Hektar Grund, der im Kerker totgeprügelt wurde, weil er einen Beschwerdebrief verfasst hatte; der Gelehrte, der sich aufopferte, um dem in der Zelle an Lungenentzündung erkrankten Jungen das Leben zu retten (indem er ihm von seiner kargen Essensportion monatelang die Hälfte gab, bis er vor Entkräftung starb); die Frauen, die sich zur Ehescheidung von ihren eingekerkerten Männern gezwungen sahen, um die Kinder und sich selbst (vor den Nachstellungen durch die Geheimpolizei) zu schützen und den Arbeitsplatz zu behalten (...) Alle diese Momentaufnahmen sind Anklagen gegen ein Verbrecherregime (...) Der Kommunismus entstellte das Schicksal von Generationen und verstümmelte Millionen von Leben junger Menschen. ‘Klassenkampf’, ‘Klassenhass’, ‘revolutionäre Wahrheit’ waren die Parolen, die nicht allein zum Tod von Menschen und zur Vernichtung von Eliten, sondern auch zum Gesellschaftsmord führten.“
Östliche Seite der Medaille
Dies alles rührt nicht nur an momentane politische Auffassungen. Und das Panorama der Möglichkeiten, Täterpotenziale oben angesprochener Beschaffenheit im Menschen zu mobilisieren, wie sie uns das 20. Jahrhundert in Ost und West demonstrierte, darf auch nicht nur unseren Abscheu erregen. Es reicht tiefer. Es trifft die Grundlagen des Bewusstseins unserer Kultur und stellt uns vor die Frage: Ob die Philosophien, die wir uns in Europa seit der Antike, seit Aristoteles und Plato über mehr als zweitausend Jahre hinweg bis hin zu Kant aufbauten, um uns in der Schöpfung, in der Welt und in uns selbst zurechtzufinden, nicht überdacht werden müssen, weil sie doch im Blick auf das praktische Handeln letzten Endes unverbindlich blieben und alle die Opfer vor den gottlosen Ausfällen nicht schützen, von den Tätern aber – in unterschiedlicher Deutung – ausnahmslos für ihr Handeln reklamiert wurden. Selbst die Religion bot keine Gewähr, da ja auch sie nicht genügend viele Menschen stark machte in Ost und West, dem Unheil entgegenzuwirken. Ebenso wenig taten es die großen Gefühle, zu denen uns die Kunst animiert... Wir schulden Überlegungen dieser Art den Toten, derer zu gedenken wir zusammengekommen sind. So aufgeregt sich Unbelehrbare und auf einem Auge Blinde den Forschungsergebnissen Stéphane Courtois’ hinsichtlich der Grausamkeiten der Diktaturen im Osten zeigten und Courtois angriffen, so stetig wächst der Kreis bohrender Forscher, die sich den Blick auch auf die östliche Seite der Medaille des 20. Jahrhunderts, das heißt auf die Armeen der Toten hinter dem Eisernen Vorhang und die Trauer um sie nicht verbieten lassen. Im Unterschied zu der vom Nationalsozialismus herbeigeführten menschlichen Tragödie – schrieb Courtois – „war es den Opfern des Kommunismus und ihren Angehörigen lange verwehrt, das Gedächtnis des tragischen Geschehens öffentlich zu pflegen, da jegliche Erinnerung und Rehabilitationsforderung verboten waren. Der Totalitarismus hat eine nationalsozialistische, aber auch eine leninistisch/stalinistische Version. Es ist nicht länger akzeptabel, eine halbseitig gelähmte Geschichte zu schreiben (...) Der Tod eines ukrainischen Bauernkindes, das vom stalinistischen Regime gezielt der Hungersnot ausgeliefert wurde, wiegt genau so schwer wie der Tod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto, das dem vom NS-Regime herbeigeführten Hunger zum Opfer fiel.“ Es kann schon von der Anlage der Schöpfung her nicht Tote erster und Tote zweiter Klasse geben – und es gibt auch keine Toten dieser oder jener Nationalität. Denn im Tod erlöschen Zuweisungen dieser und ähnlicher untergeordneter Art; der Tod anerkennt uns allein als Menschen, im Tod sind wir über alle Begrenzungen hinweg, was uns im Leben so schwer gelingt: Brüder und Schwestern.
Kommunistisches und nationalsozialistisches Kainsmal auf 20. Jahrhundert
Noch bevor Solschenizyn mit seinen drei „Gulag“-Bänden auf die massenmörderischen Praktiken des Kommunismus hinwies, hatte der in der Ukraine geborene Jude Wassili Grossman im 1960 abgeschlossenen, erst nach seinem Tod veröffentlichten Roman „Leben und Schicksal“ die „frappierende Verwandtschaft von Nationalsozialismus und Sowjetregime“ zur Sprache gebracht: deren „Wesensgleichheit“, wie der kommunistische spanische Renegat Jorge Semprun feststellte. Zusätzlich sind heute Historiker vom Rang des Polen Andrej Paczkowski, des Tschechen Karol Bartosek, des Chinakenners Jean-Lous Margolin, des Deutschen Ehrhart Neubert, des Engländers Donald Rayfield, des Ungarn Czaba Zoltán und andere am Werk, Licht ins immer noch gehütete Dunkel kommunistischer Mordtaten zu bringen, die zusammen mit jenen der Nationalsozialisten dem 20. Jahrhundert das Kainsmal aufdrückten. Keinem von ihnen geht es um Aufrechnung der einen Mörderei gegen die andere. Es geht um die Erkenntnis, die der vor zwei Jahren verstorbene deutsche Journalist und Hitler-Biograph Joachim Fest in seiner Autobiographie „Ich nicht“, 2006, formulierte: dass es der bedeutendste Triumph kommunistischer Propaganda sei, die Aufmerksamkeit der Welt von den eigenen Kapitalverbrechen auf jene der Nationalsozialisten abgelenkt zu haben – und dass damit, füge ich hinzu, die Toten im Osten, zum Anonymat verdammt, um ihre Würde gebracht werden. Aus dieser Erkenntnis heraus hatte Courtois vermerkt: „Während die Namen Himmlers oder Eichmanns in der ganzen Welt als Symbole zeitgenössischer Barbarei bekannt gemacht wurden, sind Dserschinski, Jagoda oder Jeschow weitgehend unbekannt. Und was Lenin, Mao, Ho-Chi-Minh und selbst Stalin betrifft, so wird ihnen immer noch eine erstaunliche Verehrung zuteil.“ Aber die Toten, für die ihre Namen stehen – schrieb Romulus Rusan – „bitten aus dem Himmel, sie nicht zu vergessen“. Zu ihnen gehören die Toten des 17. Juni 1953, die Toten an der Berliner Mauer und am deutsch-deutschen Grenzstacheldraht ebenso wie die des Volksaufstandes im Oktober 1956 in Ungarn, die Toten der ungezählten großen und kleinen Revolten im sowjetischen Konzentrationslager- und Verbannungsimperium, von denen keine Kunde je bis in den Westen drang, die Toten 1970/71 in Danzig, Gdingen und Stettin, in den Wojwodschaften Breslau und Lublin, als sowjetische Panzerkanonen das Feuer eröffneten, die Toten der Selbstverbrennungen aus verzweifeltem Protest wie die in Prag 1968, der Volkserhebung im Dezember 1989 in Rumänien. Aber auch die in den Folterzellen von Bautzen in der Oberlausitz, im unterirdischen Fort Nr. 13 Jilava bei Bukarest, in den schalldichten Kammern des Lubjanka-Gefängnisses des sowjetischen Innenministeriums, auf dem Militärareal der Roten Armee Betowo bei Moskau, in den Steinverliesen der bulgarischen Rhodope-Gebirge usw. Ihrer aller sei heute gedacht, wie ja nicht zuletzt auch jener auf den östlichen Flucht- und Vertreibungsstraßen des Herbstes 1944, des Winters 1945. Und da sind auch die in den Arbeits- und Todeslagern ums Leben gekommenen deportierten Deutschen aus Südosteuropa – aus dem Banat, der jugoslawischen Untersteiermark, aus der Krain und aus Südkärnten, aus Siebenbürgen und aus der Bukowina – woher schon 1941 zehntausende Juden von den Sowjets nach Sibirien gebracht worden waren –, aus der ungarischen Schwäbischen Türkei, aus den schönen deutschen Ortschaften im Ungarischen Mittelgebirge usw. Bis zu einem Drittel, hielten Fachhistoriker fest, starben die Deportierten in den Steinkohleminen des Donezbeckens, beim winterlichen Straßen- und Gleisbau im Ural, beim Wälderroden am sumpfigen Wasjugan-Fluss in der Taiga. Nie wird die Welt über jeden der im Osten auf unsägliche Weise ums Leben Gekommenen genaue Kenntnis erhalten. Zynismen und Teufeleien, die sich die Täter einfallen ließen, umreißt der britische Historiker Donald Rayfield in seinem 2004 auf deutsch erschienenen Standardwerk „Stalin und seine Henker“ pars pro toto mit dem folgenden Satz: „Im Jahr 1937, etliche Jahre vor Hitler, setzte Stalins NKWD – das Polizeiinstrument seines Terrors – Vergasung als Mittel der Massenhinrichtung ein: Lastwagen mit Werbeplakaten für ,Brot‘ fuhren kreuz und quer durch Moskau und pumpten unterdessen die Auspuffgase in den Laderaum, wo nackte Häftlinge bündelweise zusammengebunden lagen, bis die Ladung bereit für die Leichengrube war.“ Wir dürfen, wollen wir die Selbstachtung nicht verlieren, den Blick nicht abwenden vom Ozean des Leids, vor den uns der Volkstrauertag stellt. Im Rückblick auf das Jahrhundert der Weltraumflüge und der Mondlandung, in dem gleichzeitig all dies möglich war, zog der Theologe und ehemalige Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die Verwaltung der Stasi-Akten, Joachim Gauck ein Fazit, das nicht nur die Historiker, sondern ebenso die Völkerkundler und -psychologen, die Philosophen, Soziologen, Anthropologen, Schriftsteller und Dokumentaristen solange beschäftigen wird, wie Menschen mit den Mitteln der Wissenschaft an die Erläuterung der Geschichte herangehen – Gauck schrieb: „Statt des neuen Menschen (den die Ideologien des 20. Jahrhunderts versprachen), erblicken wir am Ende des Jahrhunderts den nachhaltig verstörten Menschen, statt der neuen Gesellschaft zerstörte Gesellschaften.“ Ideologien besitzen eine ebenso seltsame wie gefährliche Verführungskraft: Sie bestechen durch die Logik ihres Entwurfs auf dem Reißbrett, täuschen aber darüber hinweg, dass sich das Leben, ein Vorhang unentwegten Wandels , nicht an den Entwurf halten kann, weil das Wesen des Lebens der Wandel ist. Der gelegentliche Hinweis z.B. auf die marxistische Grundlage der kommunistischen Ideologie: diese sei „an sich“ richtig, bloß hätten die Menschen, die sie praktizierten, die „an sich“ gute theoretische Grundlage verraten – dieser Hinweis ist von bestürzender Naivität und Oberflächlichkeit. Nein, beide große Ideologien des 20. Jahrhunderts – kommunistische wie nationalsozialistische – sind schon im Anlagekern unmenschlich: weil sie dem Menschen als Individualität das Recht auf Freiheit bestreiten. „Du bist nichts, die Nation ist alles“, lautete die Grundparole des Nationalsozialismus, „Du bist nichts, das sozialistische Kollektiv ist alles“, die des Kommunismus: Von diesem eindeutigen Ausgang leiten sich in konsequenter Weiterführung die Bestialitäten beider Systeme ab. Wohl kann darüber gesprochen werden – so es denn sein muss –, welchem der beiden Postulate der höhere Rang einzuräumen ist. Doch darf keines der beiden zum Diktat, im Namen keines der beiden darf Gewalt ausgeübt, dürfen gar Menschen umgebracht werden. Genau dies aber geschah im Namen beider. Sie handelten nach der Losung französischer Revolutionäre von 1789: Fraternité ou mort!, zu deutsch: Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein! Wir bedürfen keiner in ihrer theoretischen Perfektion rechthaberischen Ideologie. Vielmehr bedürfen wir der in unserem Bewusstsein verankerten Verbindlichkeit des humanen und moralischen Gedankens, wie er allein unserer Gesellschaft das vielbeschworene menschliche Antlitz auf Dauer sichert.
Die Toten lehren die Lebenden
Das von Ideologie freie Totengedenken gehört zum Fundament der Kultur einer jeden Gemeinschaft – es ist Teil der geistigen Kraft, die uns die Wertekontinuität sichern hilft. Ihre Weitergabe ist unlöslich mit unserer Fähigkeit verbunden, uns als Erben der konstruktiven Wertebegriffe derer zu verstehen, die vor uns waren, weil wir andernfalls mit dem, was destruktiv auf uns einwirkt, nicht fertig werden. Denn nicht allein die Weisheit unserer Vorväter ist in uns wirksam, schrieb Nietzsche, sondern auch ihr Wahnsinn... So verstanden, liegt im Totengedenken nicht rückgewandter Stillstand, sondern Aufforderung zu Gegenwart und Zukunft. Wir können uns von unseren Toten nicht lösen, da wir uns sonst der Basis berauben, auf der wir stehen, einschließlich aber der Irrungen und Wirrungen. Auch sie nämlich sind Wegweiser ins Morgen, an den Kreuzungen, die falsche Richtung zu vermeiden. O nein, die klugen Philosophien Europas, die ich erwähnte, unsere religiösen Grundwahrheiten, das Ethos der Ideale, auf die uns die große Kunst dieses trotz aller Abstürze und Selbstzerfleischungen starken Kontinents immer wieder aufmerksam machten: Wir gingen immer dort in die Irre, wo wir sie nicht beherzigten. Unsere Entgleisungen können sie nicht disqualifizieren. Denn es lag und liegt nur an uns, in ihrem Geist zu handeln – oder sie zu verraten. Hic mortui vivos docent – hier lehren die Toten die Lebenden – lautet die gescheite Befindung eines Volkes auf der Höhe seiner geistigen Reife. Mögen uns die Schicksale jener Toten, an die zu erinnern hier meine Aufgabe war, das lehren, was unserem Heute und Morgen dienlich ist, mögen wir wach und verantwortungsbewusst genug sein, ihre Lehre zu verstehen.
Hans Bergel
Auf Einladung des Oberbürgermeisters der Stadt Dinkelsbühl, Dr. Hammer, hielt Dr. h. c. Hans Bergel am 16. November 2008 oben stehende Rede zum Volkstrauertag. Wir veröffentlichen diese hier in einer von ihm gekürzten Fassung; in gleicher Fassung erschien die Rede zuerst in der „Siebenbürgischen Zeitung“ vom 29.11.08.
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