Beitrag zum Buch „Die Frau mit der Lotosblume“ von Yvonne Livay
Der Autorin Yvonne Livay begegnete ich bei der Preisverleihung zum 16. Wettbewerb der Stiftung Kreatives Alter in Zürich im Oktober 2022. Wir gehörten zu den 20 Empfängern der Anerkennungsurkunden, die als 2. Preis ausgelobt waren. Was ich zu Inhalt und Hintergrund ihres dort vorgelegten Buches erfuhr, erinnerte mich an die Erzählungen Richard Oppenheimers (Venice, Florida) zur Lebensgeschichte seiner Eltern Max und Erika bei seinen Besuchen in Bad Wildungen.
Wie Yvonne Livay hatte Richard nach dem Tode seines Vaters (20 Jahre nach dem Begräbnis der Mutter) einen im Nachlass verborgenen Schuhkarton gefunden. Dieser enthielt Aufzeichnungen seiner Mutter aus den Jahren 1945/1946 über ihre Erlebnisse als verfolgte Jüdin in den Jahren 1941 bis 1945. Die Berichte bezogen sich auf Bad Wildungen, Kassel, Riga, die Konzentrationslager Kaiserwald in Lettland, drei weitere namentlich nicht in Erinnerung gebliebene Lager in der Nähe von Thorn und das Lager Stutthof bei Danzig.
Mit ihrer Mutter Lina Mannheimer hatte Erika als einzige der Familie diese Zeit überlebt. Beide waren zufällig auf dem Todesmarsch durch Polen auf dem Weg gen Westen wieder zusammengetroffen, gemeinsam kehrten sie nach Bad Wildungen zurück, wanderten von dort 1946 in die USA aus. Dort heiratete Erika 1948 Max Oppenheimer, der bereits 1940 in die USA emigriert war.
Außer den handschriftlichen Aufzeichnungen seiner Mutter Erika fanden sich im Schuhkarton Teile des Briefwechsels zwischen Max Oppenheimer mit einem Jugendfreund in Augsburg aus den Jahren 1947/1948, in dem die Verwendung des in Augsburg verbliebenen Vermögens der Oppenheimers nebst dem Verhalten diverser Augsburger Bürger Thema war.
Beiden, Yvonne Livay und Richard Oppenheimer, ist ferner gemein, jeweils erst in fortgeschrittenem Alter von der Existenz einer in die Familien hineingeborenen Cousine erfahren zu haben, Yvonne Livay 2012 aus einem Brief ihrer Tante an ihre Mutter, Richard Oppenheimer im Zuge seiner Forschung über seine Familie beim Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main 2016. Die Geburt des 1938 in Neu-Isenburg geborenen Kindes Lane, Tochter von Marga Mannheimer, Erikas älterer Schwester, war der Familie Mannheimer verschwiegen worden. Das Kind wurde, wie seine Mutter, unmittelbar nach der Ankunft des aus Berlin ankommenden Transportzuges im Bikernickiwald bei Riga am 22. Oktober 1942 ermordet.
Ihre Vergangenheit verschwieg Erika Oppenheimer gegenüber ihrem Sohn Richard bis zuletzt, desgleichen ihre dreimaligen Aufenthalte in Deutschland zwischen 1977 und 1984, zu deren Anlass sie als Zeugin in Gerichtsverfahren gegen Täter der SS geladen war. Sie unterließ es auch, Informationen aus ihrer alten Heimat zu vermitteln oder in seiner Gegenwart mit ihrem Ehemann darüber zu sprechen. Sie verweigerte ihm ein in Deutschland hergestelltes Fahrrad wie auch während der Schulzeit den Gebrauch einer mechanischen Schreibmaschine aus deutscher Produktion. Die deutsche Sprache hörte er ausschließlich von Lina, der mit im Haushalt lebenden Großmutter. Max und Moritz und Struwwelpeter waren ihre Vorlesebücher.
Richard Oppenheimer reiste indessen nach 2011 mehr als zehnmal in die alte Heimat seiner Eltern, folgte den Spuren von Mutter und Großeltern nach Polen, Litauen, Lettland und der Gedenkstätte Sachsenhausen. Darüber verfasste er die Erinnerungsbücher „Walking in the footsteps of my mother“ und „Searching for the footsteps of my father“.
Schließlich beantragte er den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Den deutschen Pass besitzt er seit Mai 2022. Bad Wildungen wurde seine zweite Heimat, in der er gern wieder wohnen möchte.
Anhang:
Richard Oppenheimer, geboren 1950 in New York
Erika Oppenheimer geb. Mannheimer, geboren 1923 in Bad Wildungen, gestorben 1988 in New York
Max Oppenheimer, geboren 1915 in Augsburg, gestorben 2006 in New York
Lina Mannheimer, geborene Lilienstein, gestorben 1981 in New York
* Beitragsbild:"THE GREY BOX", von Yvonne Livay, Jerusalem, 2012
Den Text finde ich sehr eindrücklich, besonders diesem starken Verschweigen sinne ich immer wieder nach.
Neulich begegnete mir das Thema in einem etwas anderen Zusammenhang wieder- ein Jude erzählte mir von seiner Mutter, die als Künstlerin in der DDR lebte und dass sie niemals darauf angesprochen werden wollte, eine Jüdin zu sein.
Ich wäre nun mit ihrem Sohn gern darüber tiefer ins Gespräch, was mir nicht gelang, auch er wollte schweigen.